Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Max Mannheimer:Die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Zeitzeugen wie der verstorbene Auschwitz-Überlebende Max Mannheimer sind für die Geschichtsschreibung wichtig. Das Bewahren ihrer Erzählungen ist moralische Pflicht für alle Jüngeren.

Kommentar von Kurt Kister

Solange sich Menschen aus eigenem Erleben daran erinnern, was an Gutem und Schlechtem im 20. Jahrhundert passiert ist, ist die Vergangenheit nicht Geschichte. Sie reicht, und sei es nur durch die Existenz jener Zeugen, bis in die heutige Zeit. Wenn die Zeugen nicht mehr leben, ist es die Aufgabe aller Interessierten und natürlich der Historiker, die Erinnerung als solche, aber auch die Erinnerungen der Zeugen zu bewahren und zu veröffentlichen - damit, wie Herodot schrieb, "das durch Menschen Geschehene nicht mit der Zeit in Vergessenheit gerät".

Max Mannheimer, der nun im Alter von 96 Jahren gestorben ist, war so ein Zeuge. Er hat den schlimmsten Zivilisationsbruch erlebt und mit sehr viel Glück überlebt. Der größte Teil seiner Familie wurde von Deutschen vergast und verbrannt. Sie wurden ermordet, weil sie Juden waren. Die Nazis stießen mit ihrer völkischen, völkermörderischen Ideologie bei der Mehrheit der Deutschen wenn nicht auf Begeisterung, so doch oft auf mitläuferische Gleichgültigkeit - auch weil sehr viele glaubten, dass es, je nachdem welchem Volk man angehörte, höher- und minderwertigeres Leben gebe.

Notabene, angesichts dieser Vergangenheit sollte heute niemand über eine Rehabilitation des Wortes "völkisch" schwafeln oder einen Begriff der NS-Siedlungspolitik wie "Umvolkung" benutzen. Wer es dennoch tut, hat nichts davon verstanden, wie und warum Vergangenheit nicht nur, aber gerade in Deutschland Gegenwart bleiben kann.

Millionen Deutsche jubelten, Millionen führten Krieg

Dass der Auschwitz-Überlebende Mannheimer zunächst nie wieder nach Deutschland wollte, ist verständlich. Es war eben nicht das Werk einer kleinen Clique um Hitler, und es waren auch nicht "die" Nazis, die 1933 irgendwoher kamen und 1945 dann wieder verschwanden. Es waren Millionen Deutsche, die in den Dreißigerjahren jubelten und es waren wiederum Millionen Deutsche, die in der Wehrmacht, der SS und der Zivilverwaltung im Osten den Vernichtungskrieg führten.

Mittlerweile gibt es zahllose Bücher, Filme und Artikel darüber, wie und warum die Generation der etlichen Täter, sehr vielen Mitmacher und wenigen Widerständler ganz überwiegend mit ihrer in Köpfen und Seelen immer noch so gegenwärtigen Vergangenheit in Ruhe gelassen werden wollte. Wer heute älter als Mitte 50 ist, kennt die schweigenden Väter; erinnert sich daran, wie selbstverständlich von Schützen und Veteranen Kriegsorden getragen wurden; wie in der Bundeswehr und anderswo militärische Taten im Krieg von ihren Ursachen und ihrem Zweck geschieden wurden. Damals lebten noch viele derer, die dabei waren und von denen nicht wenige glaubten, dass die, die nicht dabei waren, ohnehin nie verstehen könnten, wie "das" war. Wenn man Max Mannheimer zuhörte, konnte man verstehen, wie "das" war - auch wenn man nicht verstehen konnte, wie die, die dabei waren, "das" Mannheimer und Millionen anderen antun konnten.

Zeugen führen vor Augen, dass die Vergangenheit immer noch Gegenwart ist

Zeitzeugen - Opfer, Mitläufer und auch Täter - sind für die Geschichtsschreibung wichtig. Das Weitergeben und Bewahren dieser Erzählungen aber entspricht auch "der moralischen Pflicht, sich der Vergangenheit zu erinnern", wie die britischen Historiker Simon Price und Peter Thonemann im Buch "The Birth of Classical Europe" schrieben. Zu dieser Pflicht gehöre auch, "jenen entgegenzutreten, welche die Vergangenheit zu unlauteren Zwecken umschreiben wollen".

Geschichtsschreibung muss nicht immer einen pädagogischen Zweck verfolgen. Zeugen aber betreiben keine Geschichtsschreibung, sondern sie berichten darüber, was sie erlebt haben. Gerade für junge Menschen sind solche Berichte wohl die eindrücklichste Möglichkeit, davon zu erfahren, was das Gestern war, wie das Heute wurde und wie das Morgen nie sein darf. Zeugen, Überlebende in jeder Hinsicht, führen auch vor Augen, dass die Vergangenheit immer noch Gegenwart ist. Wer also auf der Straße hört oder im Netz liest, dass "wir" doch mit "dem Krieg und alledem" nichts mehr zu tun hätten, der denke daran, wie viele vor 1935 Geborene noch in Russland und Polen, in Israel und Deutschland leben.

Diese Vergangenheit wird nicht so schnell Geschichte, auch wenn die, die sich noch erinnern, immer weniger werden. Sie bleibt Gegenwart, nicht nur dank solcher Menschen wie Mannheimer. Die erste Nachkriegsgeneration in Deutschland wurde geprägt von der Auseinandersetzung damit, dass das Land ihrer Eltern und Großeltern Europa in den Abgrund gestürzt hat. Kein Wunder, dass bis heute viele der Nachbarn Deutschlands einer Führungsrolle Berlins in dem neuen Europa manchmal so skeptisch gegenüberstehen. Die Gegenwart vergeht jede Minute, in der Erleben zur Erinnerung wird.

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SZ vom 26.09.2016/sks
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