Süddeutsche Zeitung

Zum Tod der Widerstandskämpferin Lina Haag:Die Lebensretterin

Lesezeit: 2 min

Lina Haag kämpfte gegen die Nazi-Diktatur, rettete ihren Ehemann aus dem Konzentrationslager und schrieb ein Buch über ihre Erlebnisse: Nun ist die Widerstandskämpferin im Alter von 105 Jahren gestorben.

Barbara Distel

Die Zeitzeugen verschwinden. Aufklärung über das nationalsozialistische Terrorsystem liegt heute in den Händen von Vertretern der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration. Neben den Ergebnissen umfangreicher zeitgeschichtlicher Forschungen der vergangenen Jahrzehnte steht dafür das Erbe der überlebenden Opfer der Diktatur zur Verfügung. Sie haben es in Form von Erinnerungsberichten sowie von Ton- und Filmdokumenten mit lebensgeschichtlichen Interviews hinterlassen, in der Hoffnung, dass ihr Schicksal und die Geschichte der Verbrechen auch nach ihrem Tod nicht vergessen wird.

Zu den bedeutsamsten Zeugnissen über den deutschen Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur gehört der Bericht von Lina Haag, "Eine Handvoll Staub. Widerstand einer Frau 1933 - 1945", den sie im Jahr 1944, noch vor der Befreiung niedergeschrieben hatte und der zeitgleich mit Eugen Kogons berühmter Studie "Der SS-Staat" bereits 1947 erschien.

Seither wurde er hunderttausendfach und in vielen Sprachen publiziert und gelesen. Die letzte Ausgabe erschien im Jahr 2005 im Münchner Deutschen Taschenbuch Verlag.

Als Ehefrau von Alfred Haag, eines kommunistischen Abgeordneten im Stuttgarter Landtag, der bereits am 31. Januar 1933 festgenommen wurde, kam auch sie nach dem Reichstagsbrand zunächst für zehn Monate ins Stuttgarter Landesgefängnis Gotteszell, das als frühes Konzentrationslager Württembergs für Frauen genutzt wurde. Nach kurzer Freilassung wurde sie erneut verhaftet und für nahezu drei Jahre zunächst im Zuchthaus und anschließend im ersten großen Frauenkonzentrationslager Lichtenburg bei Torgau inhaftiert.

Nach ihrer Entlassung aus dem KZ begann sie mit Mut und Beharrlichkeit für die Freilassung ihres Mannes zu kämpfen, der aus dem KZ Oberer Kuhberg nach Dachau und von dort in das berüchtigte Konzentrationslager Mauthausen in Oberösterreich gebracht worden war.

Nach vielen vergeblichen Bemühungen gelang es ihr schließlich persönlich bis zu Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS und schrankenlosen Herrscher über das Terrorinstrument "Konzentrationslager" vorzudringen. "Ich möchte Sie bitten", sagte Lina Haag zu Heinrich Himmler über ihren Mann, "ihn freizugeben." Und sie hielt in ihrem Bericht fest: "Mehr sage ich nicht. Ich bettle nicht." Heinrich Himmler, offensichtlich beeindruckt von Lina Haags Offenheit und Mut, gab den Befehl zur Entlassung Alfred Haags aus dem Konzentrationslager Mauthausen.

Später wurde Alfred Haag zur Wehrmacht einberufen und geriet 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1948 zurückkehrte. Lina Haag war es dank ihrer Unbeirrbarkeit gelungen, das Leben ihres Mannes zu retten.

Nach dem Krieg lebten Lina und Alfred Haag mit ihrer Tochter in München. Bis zu seinem Tod im Jahr 1982 kämpfte Alfred Haag für die Anerkennung und Entschädigung der überlebenden Verfolgten. Als langjähriger Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau und Mitglied des Internationalen Dachau Komitees war er darüber hinaus den Aufgaben der Gedenkstätte Dachau eng verbunden. Seine Frau Lina unterstützte ihn, blieb aber im Hintergrund.

Die Neuauflage ihrer Erinnerungen im Jahr 1977 fand allerdings ein starkes Echo, besonders bei Frauen, die sich durch ihre direkte Darstellung angesprochen fühlten. Sie las in Schulen und bei Veranstaltungen der Kirche und der Gewerkschaft.

Nach ihrem 80. Geburtstag zog sie sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück, nahm aber weiterhin lebhaften Anteil am politischen Geschehen. Anlässlich ihres 100. Geburtstags verlieh ihr die Stadt Dachau im Jahr 2007 den Dachau-Preis für Zivilcourage, da sie "als Verfolgte des NS-Regimes Mut gegen die Obrigkeit bewies, der beispiellos ist."

Lina Haag ist am Montag im Alter von 105 Jahren in München gestorben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1388388
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 21.06.2012
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.