Zu Unrecht im Gefängnis:Wenn die Justiz gegen sich selbst ermittelt

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Hinter den Gittern der Münchner Justizvollzugsanstalt Stadelheim saß der 33-Jährige - auch dann noch, als die Geldstrafe längst bezahlt war. (Foto: Claus Schunk)
  • Ein 33-Jähriger muss wegen einer nicht gezahlten Geldstrafe in Haft.
  • Als ein Freund das Geld überweist, hätte er sofort freigelassen werden müssen. Stattdessen sitzt er zu Unrecht elf Tage im Gefängnis.
  • Die internernen Ermittlungen verlaufen sehr schleppend - über Jahre.

Von Bernd Kastner, München

Menschen machen Fehler, und Vergessen ist menschlich. Dass aber eine Behörde einen Gefangenen in einem Gefängnis vergisst, das sollte dann doch nicht passieren. Und wenn doch? Dann versucht sich die Justiz in Selbstjustiz - und spricht sich am Ende selbst frei von strafrechtlicher Schuld.

Kafka? Nein, Bayern. Die Geschichte spielt in München, in Deutschlands größtem Gefängnis und in den Stuben der Staatsanwaltschaft. Mindestens elf Tage sitzt ein Mann zu Unrecht hinter Gittern, es besteht der Verdacht der strafbaren Freiheitsberaubung. Die Staatsanwaltschaft München I ermittelt gegen die Staatsanwaltschaft München I und erklärt am Ende: Sorry, war keine Absicht, bloß ein Versehen. Die Rekonstruktion des Geschehens offenbart neben persönlichen Fehlern und einem Versagen der Kontrollinstanzen ein bemerkenswertes Laissez-faire der bayerischen Justiz im Umgang mit dem Grundrecht der Freiheit.

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Was passiert ist

Dass Mark Roth (Name geändert) am 22. Mai 2013 in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim landet, darf ihn nicht wundern. Der damals 33-Jährige hat eine Geldstrafe nicht bezahlt, 550 Euro sind offen, weshalb ein Haftbefehl gegen ihn ergangen ist. Also holen ihn Polizisten nachts aus seiner Münchner Wohnung und bringen ihn in die JVA. 55 Tage Ersatzfreiheitsstrafe. In solchen Fällen gibt es aber laut Gesetz einen einfachen Ausweg: Der Inhaftierte zahlt seine Strafe, dann ist er unverzüglich freizulassen.

Für Mark Roth überweist Till Mayer (Name geändert) noch am Tag der Verhaftung für seinen Bekannten die 550 Euro an die Landesjustizkasse in Bamberg. Eigentlich müsste sich nun automatisch und schnell das Gefängnistor öffnen. Um ganz sicher zu sein, schickt Mayer tags darauf, am 23. Mai, ein Fax an die verantwortliche Vollstreckungsbehörde, das ist die Staatsanwaltschaft: Geld überwiesen, Roth bitte freilassen.

Es passiert - nichts. Mayer schickt ein zweites Fax am 27. Mai: Lasst ihn bitte raus! Keine Reaktion. Sein drittes Fax schickt der Freund an die Generalstaatsanwaltschaft, die Aufsichtsbehörde, da sitzt Roth schon seit sechs Tagen hinter Gittern: "Eilt sehr!" Doch den Vollstreckern eilt gar nichts. Erst nach 13 Tagen darf Roth raus, elf Tage zu spät.

Wie der Freund reagiert

Mayer stellt Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung, sie landet bei der Staatsanwaltschaft München I. Die gilt als eine der energischsten in der Republik, kein Großkonzern, kein Prominenter ist vor ihr sicher. Doch in der Causa Roth scheint die Lust gering, im eigenen Haus nach dem Rechten zu sehen und zu klären: Wer hat da was getan? Oder eben nicht getan?

Runde eins der Ermittlungen richtet sich gegen unbekannt und ist schnell beendet. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt, ein Hauptabteilungsleiter, hält es nicht für nötig, einen Beschuldigten namentlich ausfindig zu machen. Stattdessen ist er sich sicher, dass kein Vorsatz vorliege, sondern "nur von Fahrlässigkeit auszugehen" sei, und die ist nicht strafbar. Verfahren eingestellt.

Roths Anwalt Marco Noli legt Beschwerde ein, Runde zwei der Ermittlungen beginnt. Nun wird zwar der Rechtspfleger A. als Sachbearbeiter identifiziert und als Beschuldigter geführt. Diesen zur Vernehmung persönlich vorzuladen, hält der Oberstaatsanwalt aber nicht für nötig. Ein Telefonat genügt ihm, festgehalten in einem handschriftlichen Vermerk.

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Freiheitsberaubung ist mit Haft bis zu zehn Jahren bedroht, doch der Rechtspfleger scheint sich keine Sorgen zu machen, er nimmt sich nicht einmal einen Anwalt. Am Telefon erklärt er dem Ermittler, dass er sich dunkel erinnere an die Causa Roth, und dass er einen "Irrtum" nicht ausschließe. Der Ermittler geht davon aus, dass dem Rechtspfleger die Mahnschreiben nie vorgelegt worden seien. Wer aber hat die Faxe, die nachweislich eingegangen sind, liegen gelassen? Statt eine Antwort zu suchen, stellt der Oberstaatsanwalt die Ermittlungen ein zweites Mal ein: alles ein bedauerliches Versehen.

Nun beantragt Anwalt Noli, eine andere Staatsanwaltschaft einzuschalten, damit die Münchner nicht länger gegen sich selbst ermitteln. Der Antrag wird abgelehnt, weil der beschuldigte Rechtspfleger ja gar nicht mehr in dieser Staatsanwaltschaft arbeite, und es keine persönliche Beziehung zwischen ihm und dem Ermittler gebe. Das entscheidet die Generalstaatsanwaltschaft, aber auch diese Kontrollinstanz ist in die Schlamperei verwickelt: Auch dorthin hat Mayer ein Fax geschickt ("Haftsache! Bitte sofort vorlegen!"), auch dieses Fax blieb tagelang liegen, der Zuständige erhielt es erst neun Tage später, da war Roth schon wieder draußen. Und doch entscheidet der "General": Ermittelt weiter gegen euch selbst.

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Wie mit einem weitereren Beschuldigten umgegangen wurde

Immerhin, Runde drei des Verfahrens beginnt. Jetzt gibt es einen zweiten Beschuldigten, einen JVA-Mitarbeiter, Regierungsamtmann S. Schließlich haben die Faxe mit den Hilferufen auch die JVA erreicht. Auch dort scheint man recht lässig mit dem Häftling Roth umgegangen zu sein. Zwei Jahre sind vergangen, ehe der Regierungsamtmann vernommen wird.

Er erinnert sich, dass ihm der Fall merkwürdig vorgekommen sei und er seine Mitarbeiterin gebeten habe, die Sache zu klären. Die Frau erinnert sich, dass sie x-mal den Rechtspfleger A. angerufen habe, doch der sei nie ans Telefon gegangen, obwohl er im Dienst war. Sie habe es sogar über die Vermittlung versucht, vergeblich. Auf die Idee, einen Kollegen oder einen Chef von A. zu kontaktieren, vielleicht schriftlich, kam offenbar niemand. Als diese Mitarbeiterin in Urlaub ging, übernahm eine Kollegin. Doch die sprach, so erinnert sie sich, weder mit ihrem Chef noch mit der Staatsanwaltschaft über Roth.

Einfach freilassen darf die JVA niemanden, es bedarf der Weisung der Staatsanwaltschaft. Doch dort bleiben nicht nur Faxe liegen. Nach zwei Jahren des Ermittelns stellt der Oberstaatsanwalt fest, dass der Rechtspfleger sehr wohl über den Eingang der 550 Euro informiert worden war, er hatte eine elektronische Mitteilung der Justizkasse erhalten, aber nicht reagiert. Egal, der Ermittler stellt das Verfahren ein drittes Mal ein: Der JVA-Mann habe seine Pflichten erfüllt; und beim Rechtspfleger seien weder Motiv noch Vorsatz zu erkennen und kein strafbares Handeln zu beweisen. Akte zu.

Warum diese Schlamperei?

Dabei gäbe es noch viel aufzuklären innerhalb des Münchner Vollstreckungsapparats: Warum haben nicht nur einzelne Mitarbeiter geschlampt, warum hat das ganze System versagt? Es sind prominente Juristen, die in den vergangenen zwei Jahren an obersten Stellen verantwortlich waren: Der langjährige Generalstaatsanwalt Christoph Strötz ist inzwischen Präsident des Oberlandesgerichts Nürnberg. Sein Nachfolger als "General" war Peter Frank, seit Kurzem Generalbundesanwalt in Karlsruhe und damit oberster deutscher Strafverfolger.

Chef der Staatsanwaltschaft München I war bis vor Kurzem Manfred Nötzel, der nun zum Generalstaatsanwalt aufgestiegen ist. Während der bayerische Innenminister 2013 erkannt hat, dass es dem Rechtsfrieden schadet, wenn Polizisten gegen verdächtige Kollegen im eigenen Haus ermitteln, zuckt man im Justizministerium nur mit den Schultern: Befangenheit, wenn München I gegen München I ermittelt? Ach was, alles gesetzeskonform. Zumindest Stadelheim wirkt gewillt, Lehren aus den Pannen zu ziehen: Man werde gegebenenfalls die interne Kommunikation verbessern. Die Staatsanwaltschaft bedauert die Fehler und weist darauf hin, dass regelmäßig "Qualitätskontrollen" stattfänden.

Frei gekommen ist Mark Roth nach 13 Tagen übrigens, weil seine Eltern die Geldstrafe abermals beglichen haben. Bar an der Gefängnispforte. In diesem Fall, und nur in diesem, darf die JVA einen Häftling eigenständig freilassen.

© SZ vom 17.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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