Zeitzeugen:"Ziemlich überflüssig"

Oskar Maria Graf, deutscher Schriftsteller

Der Schriftsteller Oskar Maria Graf.

(Foto: dpa)

Oskar Maria Graf wundert sich über Sonderlinge in der Stadt

Der Schriftsteller Oskar Maria Graf (1894-1967) sympathisierte nicht nur mit den Arbeiter- und Soldatenräten, er beteiligte sich in der Räterepublik auch an der Pressezensur, freilich ohne politisch eine Rolle zu spielen. In "Wir sind Gefangene" erinnerte er sich an das Durcheinander und an die Not in München im März 1919.

"Es tauchten um jene Zeit massenhaft solche Sonderlinge auf. Einer trug einen langen Zopf und Strohhut, sehr enge, karierte Hosen und eine ebensolche Joppe. Er suchte die Menschenaufläufe und lispelte dann jedem ins Ohr: Christus sind wir! (...) Ein anderer - sehr verwahrlost gekleidet, mit bezwickertem, bissigem Gesicht - saß meistens in den Cafés herum und rechnete. Auf lange weiße Blätter malte er Tabellen, und wenn ihn wer ansprach, erklärte er ihm schnaufend, wenn jeder täglich nur neunzig Gramm Roggenbrot und zehn Gramm Fleisch äße, wäre kein Elend mehr. Besonders wütend war er gegen die Konditoreiwaren. (...) Christenmenschen predigten in Versammlungen, Nacktkulturanhänger verteilten ihre Kundgebungen, Individualisten und Bibelforscher, Leute, die den Anbruch des tausendjährigen Reiches verkündeten, und Käuze, die für Vielweiberei eintraten, eigentümliche Darwinisten und Rassentheoretiker, Theosophen und Spiritisten trieben ein harmloses Unwesen. (...)

Ja, ich ging wieder nach Nymphenburg. Warum sollte ich auch nicht? Mir war's angenehm, und anderen schadete es nicht. Und, offen gestanden, ich kam mir ziemlich überflüssig in der revolutionären Bewegung vor. Zutrauen hatte ich zu nichts und niemanden und von mir selber erwartete ich am allerwenigsten.

Als es 'Nieder mit dem Krieg! Weg mit dem Militarismus!' geheißen hatte, war ich völlig dabei, denn es ging mich ganz an, das begriff ich, weil ich es von Jugend auf haßte. Unter all den späteren Parolen und Schlagwörtern konnte ich mir nichts Rechtes vorstellen. Ich war einer von den Millionen, der nur tätig wird, wenn es um seinen Nutzen geht (...). Wenn ich genau nachdachte, kam es mir vor, als faßten die meisten Führer den Massenmenschen viel zu kompliziert auf und redeten ihm Dinge in den Kopf, um die er nie ohne Zwang sein Leben in die Schanze wirft. (...) faktisch war's doch immer das gleiche: ich lief mit, wenn alle losgingen, ich schrie mit, wenn alle schrien, ich stürmte, wenn man stürmte, sonst fast nichts.

Also fing ich an, Säufer zu werden."

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