Zeitzeugen:"Es war bloß ein Spiel"

Zeitzeugen: Victor Klemperer.

Victor Klemperer.

(Foto: Ursula Richter/Deutsche Fotothek)

Victor Klemperer alias "Anti-Bavaricus" glaubt nicht, dass es zu Blutvergießen kommt

Der Philologe und Journalist Victor Klemperer (1881 - 1960) berichtete ab Februar 1919 als Korrespondent für die Leipziger Neuesten Nachrichten aus dem revolutionären München. 1942 verarbeitete er seine damaligen Artikel in seinen Erinnerungen; die entsprechenden Abschnitte sind erst 2015 erstmals veröffentlicht worden. Klemperer sah die Geschehnisse in München damals distanziert; das geht schon aus dem Pseudonym "A.B." hervor, unter dem er schrieb; die Abkürzung steht für "Anti-Bavaricus". Im April 1919 beobachtete er die Militärparade der Roten Armee.

"Der Marsch der Bataillone war gut, soweit es nicht Soldaten waren, die marschierten. Die Arbeiter in Zivil, ältere Leute mit ernsten, oft verbitterten Gesichtern, trugen das Gewehr und hielten sich nicht anders, als sie draußen getan, wenn sie in Stellung gingen. Die Soldaten dagegen waren junge Burschen, die das Ganze offenbar für einen frechen Spaß nahmen. 'Wenn es wirklich ernst wird', schrieb ich, 'werden die Arbeiter kämpfen und die Soldaten laufen.'

Aber bei der großen Nachmittagsdemonstration war ich überzeugter als je, daß es nicht ernst werden würde! Welch ein Volksfest. Vormittags waren ein paar Tausend defiliert, jetzt zog eine große Masse durch die Ludwigstraße mit einer Unzahl flatternder roter Fahnen, Bewaffnete und Unbewaffnete, Männer und Frauen und Mädchen und Jungen, und alle so lustig plaudernd und aus Leibeskräften mitschreiend, wenn die Ordner ein Hoch auf die Räterepublik ausbrachten, und noch seliger brüllend, wenn es ein 'Nieder!' war. 'Nieder mit den Hohenzollernsozialisten!' Sie warfen die Arme hoch, und ganz Verwegene schwenkten die Gewehre über den Köpfen. Und dann wurde gesungen und dann wieder geplaudert - nein, es würde nicht ernst werden, es war bloß ein Spiel. Und vielleicht war dies die Abschiedsvorstellung der phantasievollen Regierung, denn nun ging ja das Gerücht, daß Reichstruppen in größerer Anzahl im Anmarsch seien. Da würde gewiß beizeiten eingelenkt und kapituliert werden. -

Und dann wurde es doch ernst. In den nächsten Tagen verschlimmerte sich die Lage. Die Lebensmittel wurden knapp, die Plünderungen nahmen zu, es wurde mehr geschossen, häufiger Sturm geläutet. (...) Und jetzt, da die Bürger zu merken begannen, daß das räterepublikanische Spiel (...) für sie doch wohl Schlimmeres bedeuten konnte als nur eine wilde karnevalistische Veranstaltung, wie zeigten sie jetzt ihr Erwachen zum Widerstand? Durch spontanen Antisemitismus. Saujuden! schimpften einige vor den Maueranschlägen, Saujuden! brüllte manchmal ein kleiner Chor, und Flugblätter tauchten auf, die den Juden alle Schuld an der Räterepublik, an der Revolution überhaupt, an der Anzettelung des Krieges, an seinem unseligen Ausgang zuschrieben. Der Unterschied zwischen den Flugblättern und den auf der Straße geführten Reden bestand bloß darin, daß die Flugblätter die Juden allein für alles verantwortlich machten, während der bürgerliche Volksmund neben den Juden die Preußen nannte, und dies in so enger Gemeinschaft, daß Jud und Preiß oft wie Synonyma für dasselbe Prinzip des Bösen klangen. Wohin sollte ich mit meinen Sympathien?"

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