Zeitzeugen:Blutlachen auf dem Bürgersteig

Der Revolutionär Ewald Ochel erinnert sich an seine Flucht

Der Kommunist und Revolutionär Ewald Ochel (1875 - 1957) war im Februar 1919 aus Düsseldorf nach München geflohen, wo er sich an der Räterepublik beteiligte und nicht nur deren Zusammenbruch erlebte, sondern auch den Terror der Konterrevolution. In seinen Erinnerungen erzählt er, wie ihm mit seinem Mitstreiter Gustav Triebel die Flucht gelang.

"Ich traf mit Gustav Vorbereitungen zu einem sicheren Versteck, oder zur Flucht aus der Stadt, brachte mein persönliches Eigentum bei einem Spediteur unter, prüfte verschiedene Angebote treuer Münchner Genossen, die mich verstecken wollten. Zum Morgen des folgenden Tages hatte ich mich mit Gustav verabredet, um zur Theresienstraße zu gehen, wo eine Angestellte der Räteregierung uns ein Zimmer angeboten hatte. (...) Kaum waren wir oben, rief unsere neue Wirtin aufgeregt: 'Schaut doch mal vorne durchs Fenster!' und schlug überrascht die Hände zusammen. Gerade setzten Weißgardisten ihre Gewehre zu Pyramiden. Wir waren gefangen! (...) Nach zwei Tagen ging unser Proviant zu Ende. (...) Da erbot sich eine Genossin, die sich uns zugesellt hatte, aus ihrer Wohnung Lebensmittel herbeizuschaffen. (...) Ich wollte schon ungeduldig über das lange Ausbleiben beider werden, als plötzlich Gustav ins Zimmer stürzte: 'Rasch hier fort, Fanny ist vor ihrem Haus verhaftet worden!' (...); wir ordneten unsere Kleidung - und dann auf die Straße. Die Gewehrpyramiden der Weißen waren verschwunden. Wohin? (...) Überall sahen wir die Spuren schwerer Kämpfe. Blutlachen, schon geronnen, lagen mitten auf dem Bürgersteig. Eine Brauerei mußte besonders hartnäckig verteidigt worden sein, sie zeigte zerstörte Türen und Fenster. (...) Fast mechanisch, skeptisch geworden, fanden wir den Gasthof. Auf unser Verlangen nach Schlafquartier bedauerte die Wirtin achselzuckend: 'Gerade vor einer halben Stunde hat sich eine Abteilung Soldaten hier einquartiert.' (...)

Das tagelang währende Hocken im Zimmer hatte mich fast krank gemacht. Gustav dagegen ging täglich auf Erkundigung in die Stadt. (...) Seit einigen Tagen verkehrte die Eisenbahn wieder und wir durften unsere braven Wirtsleute nicht länger gefährden. (...) Als sich der Schalter öffnete, stieg meine Begleiterin hinab, um für uns beide eine Karte zu lösen. Mit nur einer für sich kam sie zurück. Die Bahnhofwache verlangte, daß jeder persönlich kommen und sich legitimieren müsse. Ohne einen Augenblick zu zögern, ging ich hinab zum Schalter, andernfalls ich mich verdächtig gemacht hätte. Ich zeigte meinen Abmeldeschein von Remscheid vor und erhielt anstandslos meinen Fahrschein. Dann winkte ich meiner Begleiterin und wir stiegen in den Zug. Durchs Abteilfenster konnte ich feststellen, daß alle Stationen bis Freising von Soldaten besetzt waren."

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