"Zu reich, zu schick, zu saturiert!" Stereotypen über München wie diese hatte Stephan Lessenich, 49, im Kopf, als er den Ruf an die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) bekam. "Du nach München, da passt du gar nicht hin", wunderten sich auch viele seiner damaligen Kollegen an der Uni Jena, als der Soziologe seinen Ortswechsel ankündigte. Er ging trotzdem, und seit neun Monaten leitet Lessenich nun den LMU-Lehrstuhl für Soziologie. Mittlerweile hat er festgestellt: "München ist gar nicht so homogen, wie es vielleicht von außen erscheint." Es gebe interessante Kreise und Subkulturen, wenngleich sie nicht so groß und vielfältig seien wie etwa in Berlin.
Und ja, die Stadt an der Isar gefalle ihm. Ebenso wie sein Büro in einem alten Wohnhaus im Herzen Schwabings, das er von seinem Vorgänger, dem am 1. Januar 2015 gestorbenen Soziologen Ulrich Beck, übernommen hat. Wichtigstes Möbelstück dort ist für Lessenich ein Sessel von seiner Oma. Darin ließe es sich sicher wunderbar faulenzen, aber dafür fehlt ihm die Zeit. Dabei fordert der Soziologe ein "Recht auf Faulheit". Das ist nicht neu. Paul Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx, formulierte diesen Anspruch schon Ende des 19. Jahrhunderts in einer Streitschrift. Drei Stunden Arbeit am Tag seien genug, meinte Lafargue. Und auch Lessenich propagiert die Idee einer "radikalen Arbeitszeitverkürzung".
Alle müssen Leistung bringen
"Das Recht auf Faulheit will erarbeitet werden", schreibt Lessenich in seinem Vorwort für eine 2014 erschienene Neuauflage von Lafargues Streitschrift. Aber kann, darf man das heutzutage noch fordern? "Man kann nicht nur, man muss, und zwar gerade jetzt eine Forderung stellen, die gegen den Zug der Zeit geht", sagt er. Seit zehn bis 15 Jahren erlebe die Gesellschaft einen "starken Produktivismus". Alles ziele darauf ab, die Ressourcen aller möglichst umfassend abzuschöpfen, sagt Lessenich im Jargon des Soziologen. Selbst die "jungen Älteren" würden als "Ressource entdeckt, die noch etwas leisten kann" und deren Leistungen gesellschaftlich ausgenutzt werden sollten, zumal sie vielleicht zu weiterem Wachstum beitragen könnten. In einer Gesellschaft, "die so gepolt ist auf Leistung, Ertrag und Wertschöpfung", sei die plakative Forderung Lafargues nach einem Recht auf Faulheit besonders wichtig.
"Wir produzieren jedes Quartal mehr und dennoch hat die soziale Ungleichheit gerade in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen", erläutert Lessenich. Je größer aber die soziale Ungleichheit sei, desto stärker sei der soziale Druck zu längeren Arbeitszeiten. Schließlich schiele jeder auf den Nachbarn und wolle gleichziehen, wenn der mehr besitzt.
Lessenich arbeitet nicht nur als Professor an der LMU, er ist zudem Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Wie war das mit dem Recht auf Faulheit? Lessenich arbeitet selten weniger als 60 Stunden pro Woche. Das alleine macht das Problem deutlich: Welcher Weg also führt aus der Wachstums- und Arbeitsspirale heraus? Die Antwort des Soziologen: "Individuelles Handeln ist meist zum Scheitern verurteilt." Der Wandel gelinge nur, wenn es kollektive Vereinbarungen für einen Verzicht gäbe. Sozialromantik, werden Skeptiker einwerfen - aber das lässt Lessenich nicht gelten. "Träum weiter" sei oft gerufen worden, etwa als es um die Abschaffung von Kinderarbeit und die Einführung einer gesetzlichen Rentenversicherung gegangen sei. Beides "ist aber längst Realität", kontert Lessenich, der als einer der profiliertesten kritischen Wohlfahrtsstaatsforscher gilt.
Der Wandel ist dringend geboten
Er ist sich sicher, dass er einen Wandel der Wachstumsgesellschaften noch erleben wird. Einen Wandel, den er für dringend geboten hält. Vor allem, da die reichen Industrienationen ihren Wohlstand zu Lasten Dritter erwerben. Lessenich spricht von einer "Externalisierungsgesellschaft", in der wir unsere Probleme auf andere abwälzen, die wir ausbeuten. Ganz nach dem Motto "Neben uns die Sintflut", wie es der Soziologe einmal in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung formulierte. "Unsere privilegierte Stellung" in der Welt, sagt er, hänge auch damit zusammen, dass andere eben nicht so privilegiert seien, "dass wir die auskonkurrieren und kleinhalten".
Sensibilisieren möchte Lessenich dafür, dass "die Lösung nicht sein wird, dass irgendwann einmal alle so leben wie wir". Vielmehr müssten auch hier Lebensformen geändert werden, damit woanders der Wohlstand steige. Wie aber den Wandel realisieren? Mit einer Umverteilung von "oben" nach "unten", progressiver Besteuerung und Änderung des Erbrechts sowie einer schrittweisen Anhebung von Mindestlöhnen und Grundsicherung, rät der Soziologe.