Zeitgeschichte:Weiße Rose: Zeitzeugin spricht über berühmtes Foto

Zeitgeschichte: Regina Degkwitz beschreibt die Begebenheit am Ostbahnhof, als hätte sie sich soeben zugetragen.

Regina Degkwitz beschreibt die Begebenheit am Ostbahnhof, als hätte sie sich soeben zugetragen.

(Foto: Robert Haas)

Sophie Scholl verabschiedet 1942 ihren Bruder Hans und andere Männer aus dem Kreis der Weißen Rose. Auch die heute 95 Jahre alte Regina Degkwitz war dabei - und erinnert sich gut.

Von Thomas Anlauf

Die jungen Männer in Uniform lächeln in die Kamera, auf einem anderen Foto stehen sie in der Gruppe am schmiedeeisernen Zaun, auf der anderen Seite, an der Orleansstraße, verabschieden sich junge Frauen von den Soldaten. Sophie Scholl steht etwas erhöht, scherzt mit Alexander Schmorell, Hans Scholl und Hubert Furtwängler. Neben der 21-jährigen Sophie ist eine weitere Frau auf dem berühmten Foto vom 23. Juli 1942 zu sehen. Sie steht bei der Gruppe, die als "Weiße Rose" in die Geschichte einging. "Sophie stand links von mir auf einer Mauer", sagt Regina Degkwitz. "Wir waren stundenlang am Bahnhof, um ihnen zu winken."

Regina Degkwitz ist eine zierliche Frau mit kurzen Haaren. Die 95-Jährige sitzt in ihrem kleinen Zimmer in Grünwald, draußen scheint die Nachmittagssonne auf eine Wiese. Als der damalige Medizinstudent Jürgen Wittenstein die Bilder von der Abschiedsszene am Ostbahnhof machte, war sie Anfang zwanzig. Und doch beschreibt sie die Begebenheit, als hätte sie sich soeben zugetragen. "Sie mussten ihre Sommerfamulatur in Russland machen", erzählt Regina Degkwitz über den Abschied am Münchner Ostbahnhof. Die jungen Männer und angehenden Mediziner waren in der Studentenkompanie, "sie hätten eigentlich alle in der Kaserne wohnen müssen und Uniform tragen, aber das haben sie nicht gemacht". Allen habe sie in jenem Sommer Päckchen an die Ostfront geschickt. Schließlich war sie mit den Männern gut bekannt. Doch eines war Regina Degkwitz nicht: im engen geheimen Widerstandskreis gegen das Naziregime. "Ich hatte von all dem keine Ahnung und habe auch nie ein Flugblatt gesehen", erzählt sie.

Sophie Scholl, Hans Scholl, und Alexander Schmorell, 1942

Sophie Scholl, Hans Scholl (Zweiter von links) und Alexander Schmorell (rechts) kurz vor der Abfahrt an die Ostfront. Die Frau links hinter dem Zaun kennt kaum jemand: Regina Degkwitz

(Foto: Wittenstein/AKG)

Die Widerstandsgruppe ging auch äußerst vorsichtig vor. Selbst Hans Scholls Schwester Sophie wäre in der Erinnerung von Regina Degkwitz wohl nie in das gefährliche Geheimnis eingeweiht worden, wenn sie nicht, als sie 1942 aus Ulm zum Studium nach München kam, schließlich mit Hans Scholl in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Franz-Joseph-Straße gelebt hätte. Damals studierte Regina Degkwitz, die zu dem Zeitpunkt noch ihren Mädchennamen Renner trug, bereits Schulmusik in München. Aufgewachsen in Hamburg konnte sie seit 1941 bei Freunden der Familie Renner in der Schwabinger Dunantstraße wohnen: in der Villa des berühmten Physikers Arnold Sommerfeld und dessen Frau Johanna. Da die junge Regina niemanden in München kannte, empfahlen ihr die Sommerfelds, doch in einem kleinen Musikkreis Querflöte zu spielen. Dort lernte sie Hubert Furtwängler kennen, einen jungen Cellisten und Medizinstudenten aus dem Schwarzwald. Furtwängler war mit Alexander Schmorell befreundet, sang dann auch mit Regina Renner, Wolf Jäger und Otmar Hammerstein im Bach-Chor.

Es war also nur eine Frage der Zeit, bis Regina Renner in den weiteren Freundeskreis von Hans Scholl und Alexander Schmorell aufgenommen wurde. "Wir waren gemeinsam bestimmt vier Mal die Woche im Konzert, auch mit Hans und Willi", erinnert sie sich. Man habe ja in keine Theaterstücke gehen können, die seien durchsetzt von Nazipropaganda gewesen: "Die Lüge war überall - in allen Ritzen und Fugen."

Nach den Konzertbesuchen gingen die Studenten oft noch in ein Lokal, um in einer Ecke leise zu diskutieren, über Musik, Politik, Literatur. Wenn Leute in der Nähe saßen, waren sie natürlich vorsichtig. Aber als Gleichgesinnte, die gegen die Nationalsozialisten waren, "hatte man seine Tastinstrumente", sagt Regina Degkwitz: Wer etwa Adalbert Stifter las, "konnte unmöglich Nazi sein". Auch wer übertrieben von "unserem über alles geliebten Führer" sprach, war mit ziemlicher Sicherheit ein Gegner des Regimes. An einem dieser Abende lernte Regina auch Sophie Scholl kennen, die erst kurz zuvor in München angekommen war und zunächst bei dem Publizisten Carl Muth wohnte, ehe sie mit Hans Scholl zusammenzog. "Sie war sehr still und schüchtern", erinnert sich Regina Degkwitz. Ganz anders als Hans, er "hatte etwas Faszinierendes".

Regina Degkwitz über die Zeit des Nationalsozialismus

"Die Lüge war überall - in allen Ritzen und Fugen."

Sie kann sich noch an viele Einzelheiten von damals erinnern, obwohl das Erlebte nun 75 Jahre her ist. So beschreibt sie, dass sie bei der ersten Begegnung von Hans Scholl und Professor Kurt Huber dabei war, der sich auch der "Weißen Rose" anschloss und am 13. Juli 1943 ebenso wie Alexander Schmorell hingerichtet wurde. Anderes hat sie erst später erfahren. So soll Huber bei einem Treffen zu Scholl gesagt haben, er wisse ja, "dass wir unser Leben riskieren". Doch trotz der Bedrohung durch die Gestapo führten die Studenten so weit es ging das Leben junger Intellektueller. Willi Graf begleitete die junge Regine Renner nach abendlichen Treffen gerne nach Hause in die Dunantstraße, obwohl er es bis zu seiner Wohnung in der Mandlstraße nicht so weit hatte.

"Es war mir unmöglich, dass ich das ausbreite"

Zeitgeschichte: Regina Degkwitz war mit den Mitgliedern der Weißen Rose gut bekannt.

Regina Degkwitz war mit den Mitgliedern der Weißen Rose gut bekannt.

(Foto: Robert Haas)

In der Villa Sommerfeld gab Regina Renner mit ihren Freunden regelmäßig Hauskonzerte, auch am 18. Februar 1943. "Damals haben wir das Fünfte Brandenburgische Konzert gespielt." Beim Musizieren erwähnte Otmar Hammerstein, einer der Freunde, dass Studenten an der Universität verhaftet worden seien, doch niemand wusste Genaues darüber. Später in der Nacht zog die Gruppe in die Mandlstraße und wollte Willi Graf ein Ständchen singen. Doch kein Fenster öffnete sich. Auch auf Schneebälle ans Fenster reagierte niemand. Am nächsten Morgen ging Regina Renner bei Otmar Hammerstein vorbei. "Er stand käsebleich an seinem Fenster", erzählt sie. Die Verhafteten waren Hans und Sophie Scholl.

Auch Kurt Huber, Willi Graf und Christoph Probst wurden verhaftet, Alexander Schmorell konnte zunächst fliehen, wurde aber am 24. Februar 1943 in einem Luftschutzbunker erkannt und denunziert. Sie wurden alle wegen "Wehrkraftzersetzung", "Feindbegünstigung" und "Vorbereitung zum Hochverrat" zum Tode verurteilt und ermordet.

Die junge Regina Renner kehrte nach den schrecklichen Ereignissen zurück nach Hamburg, sie heiratete nach 1951 den Psychiater Rudolf Degkwitz, das Paar ging nach Frankfurt, wo Regina Degkwitz vier Kinder zur Welt brachte. Später zog die Familie nach Freiburg, wo sie viele Jahre verbrachte. Lange Zeit konnte Regina Degkwitz nicht über die Münchner Zeit sprechen. "Es war mir unmöglich, dass ich das ausbreite", sagt sie heute. Dennoch haben die Ereignisse ihr Leben geprägt.

Regina Degkwitz über die Männer aus dem Kreis der Weißen Rose

"Sie hätten eigentlich alle in der Kaserne wohnen müssen und Uniform tragen, aber das haben sie nicht gemacht."

Regina Degkwitz sitzt in ihrem Zimmer in Grünwald, vor zwölf Jahren ist sie nach vielen Jahren in den Raum München zurückgekehrt, nun kann sie wieder über die Zeit mit der "Weißen Rose" sprechen. In den Händen hält sie eine vergilbte Anzeige für das zweite Jahrgedächtnis der Familie Graf für Willi Graf am 12. Oktober 1945. Darin zitieren die Hinterbliebenen aus einem Brief von Willi Graf, den er im September 1943 aus der Haft an die Familie schrieb: "Für uns ist der Tod nicht das Ende, sondern ein Durchgang, das Tor zum wahren Leben." Für Regina Degkwitz ist klar, dass Hans und Sophie Scholl, Willi Graf und all die anderen aus der Widerstandsgruppe aus einer tiefen christlichen Motivation heraus gehandelt hatten. Das sieht auch die katholische Kirche so. Sie prüft derzeit, Willi Graf als Märtyrer selig zu sprechen.

Regina Degkwitz sitzt auf einem Stuhl in ihrem Zimmer, ihre Augen sind fast erblindet. Doch sie sieht ihr langes Leben klar vor sich. Sie habe versucht, so zu leben, wie jene jungen Menschen, die wegen des Widerstands gegen das Nazi-Regime ihr Leben lassen mussten. "Mein Motto war, nach der Wahrheit zu leben."

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