Süddeutsche Zeitung

Zeit zur Besinnung:Willkommen im Zwangs-Nichts

Zwei Tage frei, zwei Feiertage: Das ist kein Mangel, das ist ein Geschenk, wenn der Mensch es annimmt. Aber das fällt vielen zunehmend schwer.

Von Stephan Handel

Wie der Huberbauern-Franz aus der Gegend von Haidmühle im Bayerischen Wald mal das Preisausschreiben gewonnen hat, da sollte er nach Paris fahren. Der Franz nahm das Radl und radelte nach Haidmühle. Dort nahm er den Postbus in die Freyung, von wo aus ihn der Triebwagen nach Passau brachte. Die Strecke Passau-München legte er mit dem D-Zug zurück, stieg hier in den Flieger und verbrachte schließlich eine Woche in der französischen Hauptstadt.

Die Rückfahrt verlief genauso wie die Hinreise, nur umgekehrt: Flieger, D-Zug, Triebwagen, Postbus, mit dem Radl nach Hause. Als er abends am Stammtisch gefragt wurde, wie es denn so sei in diesem Paris, da sagte der Huberbauern-Franz: "Mei, ist schon recht da. Nur halt ganz schön abg'legen."

Todmüde, aber bereit zur Erholung

So etwas wäre heute natürlich völlig unmöglich, schon allein, weil es kaum noch Postbusse gibt. Heute wäre vor allem die Dauer der Anreise unerträglich: Da ist man ja einen ganzen Tag oder noch länger unterwegs! Und dieser eine Tag, der geht vom Urlaub ab, der zählt nicht. Denn das Erlebnis, das beginnt ja erst mit dem Eintreffen, dann aber bitte gleich und sofort. Deshalb wird am letzten Arbeitstag das Auto vollgepackt und die Nacht durchgefahren, weil das alleine gewährleistet, dass die Ferien optimal ausgenutzt werden, keine Minute davon verschwendet wird: Todmüde zwar, aber bereit zur Erholung.

Jetzt sind übrigens zwei Tage frei, und das könnte schwierig werden. Dummerweise haben Papst Gregor und das Gesetz über den Schutz der Sonn- und Feiertage dafür gesorgt, dass der 1. November, Allerheiligen, in diesem Jahr auf einen Samstag fällt. Es werden also Supermärkte ebenso geschlossen sein wie Wertstoffhöfe, der Einsatz von Laubbläsern und Bohrmaschinen verbietet sich, will man vor den Nachbarn nicht als pietätloser Agnostiker dastehen, und im Fernsehen kommt auch nichts Vernünftiges, außer für jene, die auf Historienschinken und Wiederholungen stehen.

Wir sind es nicht mehr gewohnt, dass nichts zu tun ist. Zwar antworten junge Leute darauf, was sie gerade machen, meistens mit dem Wort "Chillen". Das wäre prinzipiell ein richtiger Ansatz, der des genussreichen Herumhängens. Das absichtlose Nichtstun indes wird durch zahllose, gleichzeitig zu erledigende Aktivitäten unterlaufen: Fernsehen, Musikhören, Twittern, Facebooken, Whatsappen - das far niente ist am Ende doch jede Menge, als habe der horror vacui, die Angst vor der Leere, Besitz ergriffen von den Menschen.

Was ist eigentlich Leere?

Aber ist das eigentlich Leere, wenn man mal nichts tut? Das Englische hat zwei unterschiedliche Begriffe für das, was im Deutschen "Einsamkeit" heißt. Solitude steht eher für Abgeschiedenheit, für das freiwillige Alleinsein, to be by myself. Loneliness hingegen bezeichnet die schmerzhafte, unerträgliche, aufgezwungene Verlassenheit. Ist es zu viel gesagt, zu behaupten, dass die Menschen aus Angst vor der Loneliness auch auf die Solitude verzichten?

"Bevor ich Quatsch mach', mach' ich lieber gar nichts", hat ein Ettaler Benediktiner vor Jahren gesagt - womit der Zeitpunkt gekommen ist, daran zu erinnern, dass Allerheiligen mal als christlicher Feiertag erfunden wurde und nicht als Gelegenheit für ungezogene Kinder, den Nachbarn mit der Bettelei um Süßigkeiten auf die Nerven zu gehen. Weil wir aber mit Heiligen lieber nicht so viel zu tun haben wollen (außer sie leben noch und kommen aus Tibet), weil wir auch den Tod gerne verdrängen, der am Sonntag, am Fest Allerseelen, zu seinem Recht kommt, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als auch diese beiden Tage mit Aktion vollzustopfen - bis hin zu den Party-Veranstaltern, die seit mehreren Jahren dringend darauf bestehen, die Leute auch an Allerheiligen zum Tanz bitten zu dürfen. Als würden gute Laune, Musikalität und Volkswirtschaft unweigerlich den Bach runtergehen, wenn mal einen Tag nicht mit den Hüften gewackelt werden darf.

Denn das könnte ja bedeuten: dass wir zur Besinnung kommen. Dafür, auch daran sei erinnert, waren die Feiertage, auch der Wochenablauf mit Werk- und Sonntagen, ja mal gedacht - um den Menschen, ihren Körpern und ihren Seelen Gelegenheit zu geben, sich zu erholen. Die rasende Ereignislosigkeit der Arbeitswelt, dieses ständige Herjagen hinter Nichts, erzeugt jedoch offenbar das Bedürfnis, doch jetzt wenigstens am Wochenende etwas zu erleben - oder es macht es den Menschen unmöglich, das Hamsterrad zu verlassen, aufzuhören mit der Geschwindigkeit, loszulassen, mal nicht überall dabei zu sein, wo angeblich etwas passiert.

"Man muss lernen, auch sinnlose Dinge mit Hingabe zu tun"

Dabeisein ist albern, außer vielleicht für Olympioniken. Wer ständig dabei sein will, wer ständig Angst haben muss, etwas zu versäumen, dem wird genau das widerfahren: Er wird sich eingestehen müssen, dass er eben nicht überall sein kann, und während er eine Sache an einem Ort zu genießen versucht, wird eine andere Sache an einem anderen Ort ohne ihn stattfinden, was den Genuss empfindlich stört. Dieses Gefühl, nicht genug bekommen zu können, führt zu solch unruhigen Angelegenheiten wie Kaffee to go, Zapping und der langen Nacht der Musik.

"Man muss lernen, auch sinnlose Dinge mit Hingabe zu tun", sagt der österreichische Kabarettist Alf Poier. Die Betonung liegt dabei nicht auf der Sinnlosigkeit, sondern auf der Hingabe. Es hat nicht viel Sinn, morgen Nachmittag drei Stunden an der Würm entlangzuspazieren. Es hat, für einen säkularen Menschen, wenig Sinn, am Sonntag auf den Friedhof zu gehen und auf die Gräber zu starren.

Es hat wenig Sinn, sich, wie es der Schriftsteller Paul Auster an Silvester tut, nachts ins Treppenhaus zu setzen und auf die Geräusche zu hören, das Scharren der Schuhe, den Atem der Liebenden, die Stunden, wie sie kleine Schritte machen. Das alles kann in der nutzenoptimierten Gegenwart nicht erklärt werden, weil es keinen Nutzen hat. Es kann den Menschen aber zurück in die Welt holen, die doch zu schnell verloren geht, wenn sie hektisch mit Füßen getreten wird.

Zwei Tage frei, zwei Feiertage, zwei Tage Zwangs-Nichts. Das ist kein Mangel, das ist ein Geschenk, wenn der Mensch es annimmt. Der Wertstoffhof hat dann kommenden Samstag gewiss wieder geöffnet.

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SZ vom 31.10.2014/lime
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