X-Cross-Lauf:Verlockendes Schattenspiel

Lesezeit: 3 Min.

Im Konkurrenzkampf um Jugendliche muss sich die Leichtathletik einiges einfallen lassen.

Von Sebastian Leisgang, München

Plötzlich ist da dieses Funkeln in Philipp Dörrs Augen. Er steht unter ein paar Bäumen und kämpft gegen die Ansagen an, die im Hintergrund aus den Lautsprechern dröhnen. Jetzt aber, als die Frage nach dem Reiz der Leichtathletik aufkommt, fällt es Dörr nicht schwer, sich mitzuteilen. "Leichtathletik bedeutet nicht nur, 100 Meter geradeaus zu laufen und fertig! Irgendwie ist es eine Reise", stellt er klar. Als müsse er sich nun für diesen Satz verteidigen, fügt er hinzu: "Ich finde, das klingt nicht abgedroschen."

Dörr, 41, ist stellvertretender Vorsitzender des Leichtathletik-Förderzentrums München, kurz LFZ. Früher war er Zehnkämpfer. Wenn er in Erinnerungen schwelgt, wird er so euphorisch, dass man meinen könnte, er breche das Interview jeden Moment ab, um einen Speer im Rasen zu versenken oder ein paar Hürden zu nehmen. "Es geht um Schnelligkeit, Bewegungstalent, Kraft, Ausdauer, Koordination. Und das Gefühl, wenn du mit allen zehn Disziplinen fertig bist, das ist überragend, du fühlst dich großartig", schwärmt Dörr.

Das Problem ist: Zu wenige Jugendliche teilen seinen Enthusiasmus.

Selbst die Kimmichs und Neuers bemühen sich um ein Autogramm der Olympia-Läuferin Hering

Zum sechsten X-Cross-Hindernislauf auf der Städtischen Sportanlage an der Inneren Wiener Straße treten an diesem Mittwochnachmittag knapp 500 Schüler an. Während ihre Kollegen und Mütter am Rand stehen und inbrünstig anfeuern, passieren sie ein Hindernis nach dem anderen: eine Wassergrube, Netze und Reifen, durch die sie hindurchschlüpfen müssen. Dabei fällt auf, auch wenn das kaum verwundert: Zahllose Kinder tragen Fußballtrikots. Von Joshua Kimmich, Manuel Neuer oder dem Amateurklub FT Gern. Die Leichtathletik fristet nun mal ein Dasein im Schatten des Fußballs. Ein Los, das sie mit nahezu alle anderen Sportarten teilt. "Der Fußball ist so dominant in Deutschland", sagt die 800-Meter-Läuferin und Olympiastarterin Christina Hering, "da ist es klar, dass sich die Kinder ihre Vorbilder im Fußball suchen. Sie haben eigentlich keine andere Option."

Ein paar Minuten zuvor hat sich Hering mit ihren Klubkollegen Mareen Kalis und Laurin Walter (alle LG Stadtwerke), mit ein paar Autogrammkarten und ein paar Stiften auf einer Bank neben der Laufstrecke niedergelassen - und schon strömen etliche Kinder heran. Selbst die Kimmichs, Neuers und Gerner Fußballer. Vor drei Jahren, erinnert sich Dörr, hätte sich niemand für Autogramme interessiert, als ebenfalls erfolgreiche Athleten als Botschafter und Paten beim X-Cross zugegen waren. Doch nun eilen etliche Schüler zu dem Trio. "Ich mache gerne Events mit Kindern", verrät Hering, "bei ihnen ist die Motivation und die Freude an Bewegung groß."

Doch auch sie weiß: Die Leichtathletik ringt seit Jahren mit einem Nachwuchsproblem. Nur: Woher rührt es? Ist der Fußball schuld? Dörr findet, es gebe mehrere Gründe. Er braucht nun seine Hände, um das zu erklären. Er klemmt seine Trinkflasche unter die Achseln und beginnt zu gestikulieren. "Es ist ein Buhlen", sagt er jetzt und lässt seine Hände rotieren, als zerre er an zwei Seilen. Vor. Zurück. Vor. Zurück. "Da entsteht ein Konkurrenzkampf", erklärt er, "das sportliche Angebot für Schüler ist gewachsen - und sie müssen sich entscheiden." Gerade der Fußball habe durch seine mediale Präsenz eine immense Strahlkraft.

Der Leichtathletik fehle, was Graf und Becker einst für das Tennis waren: Identifikationsfiguren

Auch der Freizeitsport reize, glaubt Dörr. "In einem Park laufen zu gehen, das ist im Trend", sagt er. Und - ein weiterer Grund: Derzeit gingen der Leichtathletik die Identifikationsfiguren ab. Dörr erinnert an Steffi Graf und Boris Becker, die in den Neunzigern eine einzige Tennishysterie lostraten. "Da hatte Tennis einen riesigen Zulauf. Der Leichtathletik fehlt diese Zugkraft momentan", bedauert Dörr.

Um dem Nachwuchsproblem entgegenzutreten, gehe das LFZ "aktiv raus", sagt er: "Letztes Jahr waren wir in knapp 80 Sportunterrichten und haben über 2000 Kinder gesichtet." Das werde man im nächsten Schuljahr auch so handhaben - um am Ende etwa 60 zum Probetraining beim LFZ begrüßt und letztlich 40 Mitglieder hinzugewonnen zu haben. So ist die Quote erfahrungsgemäß.

Das LFZ lockt nun auch damit, sich professioneller aufzustellen und Mehrkämpfer auszubilden. Es bietet ein breites Sportangebot in der Leichtathletik - für Hering der Grund, warum sie sich einst gegen Handball und Tennis entschieden hat: "Die Leichtathletik hat mich gepackt, weil sie so vielfältig ist. Alle Disziplinen finden in einem Stadion statt, sind aber völlig verschieden. Das ist total spannend." Womöglich, so hofft Hering, "kann man durch solche Veranstaltungen wie den Cross-Lauf noch den ein oder anderen Schüler für die Leichtathletik motivieren". Vielleicht sogar, wer weiß, die Neuers, Kimmichs und Gerner Fußballer.

© SZ vom 30.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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