Junge Literatur:Verschwende deine Jugend

Lesezeit: 4 Min.

Fenster auf für neue Gedanken: die Autorin Irene Diwiak. (Foto: Bogenberger Autorenfotos)

Womit beschäftigen sich junge Autorinnen und Autoren heute? Mit Helden von einst und Männerbildern von heute, zum Beispiel: Die Bandbreite reicht von historischen Tiefenbohrungen bis zur popliterarischen Selbstbespiegelung. Das Festival Wortspiele in München bietet unterschiedlichsten Perspektiven eine Bühne, von Irene Diwiak bis Frédéric Schwilden, von Antonia Baum bis Simon Strauß.

Von Antje Weber

"Scholl?" - "Jawoll!" Eben noch ist Hans Scholl in letzter Minute mit dem Fahrrad zur Wehrsportübung gehetzt, jetzt steht er in Uniform beim Appell seiner Studentenkompanie und denkt: "Was man Jugend verschwenden kann." Es ist der Sommer 1941, jede Begeisterung für die Nationalsozialisten ist dem Münchner Medizinstudenten längst abhanden gekommen. Als er nun sieht, wie sich sein Nebenmann nach dem Appell frech in den nahen Wald absetzt, läuft er ihm einfach hinterher - ein kurzer Ausbruch in die Freiheit.

So lernen sich Hans Scholl und Alexander Schmorell kennen, und so beginnt eine enge Freundschaft, die beide zwei Jahre später das Leben kosten wird: Als Gründer der "Weißen Rose" werden sie 1943 im Abstand von einigen Monaten hingerichtet. Die österreichische Autorin Irene Diwiak hat sich die schwierige Aufgabe vorgenommen, mit ihrem Roman "Sag Alex, er soll nicht auf mich warten" (C. Bertelsmann) nicht ganz so bekannte Aspekte der berühmten Widerstandsgruppe zu finden und für eine neue Generation von Lesern aufzubereiten. Und es ist ihr gelungen, die längst ikonischen Scholls und ihr Umfeld nicht unerreichbar fern wirken zu lassen, sondern lebensnah mit ihren Ängsten und auch Macken zu schildern. "Sie alle sind keine Helden. Wir auch nicht", schreibt sie im Nachwort. "Aber Menschen. Und zumindest das sollten wir nie vergessen."

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Es ist auffallend, dass dies nicht der einzige historisch inspirierte Roman ist, der beim diesjährigen Internationalen Wortspiele-Festival für junge Literatur im Münchner Muffatwerk vorgestellt werden wird. Nicht nur eine Österreicherin wird anreisen, die sich mit dem Thema Nationalsozialismus beschäftigt hat, sondern übrigens auch ein Schweizer: Demian Lienhard präsentiert seinen Roman über "Mr. Goebbels' Jazzband" (Frankfurter Verlagsanstalt). Auch dieser Roman endet mit einer Hinrichtung, in diesem Fall des Faschisten William Joyce in England. Über dessen vorherigen Versuch, zu Propagandazwecken in Berlin eine Big Band zu mobilisieren und einen Schriftsteller darüber berichten zu lassen, erzählt Lienhard in einem vielstimmig angelegten Roman.

Ehe jetzt jemand falsche Schlüsse zieht: Das Wortspiele-Festival ist keineswegs nur historisch ausgerichtet; Veranstalter Johan de Blank will im Gegenteil wie in jedem der bereits mehr als 20 Festivaljahre einen Querschnitt dessen zeigen, was jüngere Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum aktuell zu bieten haben (wobei er die Jugend großzügig bis über 40 Jahre reichen lässt). Unbekannte sind ebenso darunter wie bereits etablierte Autorinnen und Autoren, diesmal zum Beispiel Simon Strauß, Antonia Baum, Moritz Hürtgen oder Dirk Gieselmann.

Tomer Dotan-Dreyfus ist ein israelisch-deutscher Autor und Übersetzer. Sein Debütroman "Birobidschan" war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2023. Zuletzt übersetzte er die Biografie von Martin Buber ins Hebräische. (Foto: Shai Levy)

Die Bandbreite des zu Erwartenden ist auch thematisch groß. Der israelische, in Berlin lebende Autor Tomer Dotan-Dreyfus etwa erzählt - ja, noch eine weitere historische Tiefenbohrung - in seinem Roman "Birobidschan" (Voland & Quist) die Geschichte eines Schtetls in Sibirien im Wandel der Zeiten; vom Zufluchtsort als "jüdisches sozialistisches Paradies" in den Dreißigerjahren bis zum postsowjetischen Zerfall. Was den Autor antreibt? "Kunst ist vor allem ein Widerstand gegen die Zeit", schreibt er im Epilog.

Dass Kunst auch ein Widerstand gegen unzumutbare Lebensbedingungen heute sein kann, lässt sich dagegen aus Grit Krügers Roman "Tunnel" (Kanon Verlag) herauslesen. Was soziale und auch reale Kälte bedeutet, wissen die Mutter Mascha und die Tochter Tinka in diesem Roman nur zu genau; frierend und hungrig bauen sie sich in ihrer klammen Wohnung eine Höhle aus all ihren Decken, Handtüchern und Jacken. Als "das Amt" die Mutter nötigt, sich bei einem Pflegeheim zu bewerben, wärmen sie sich dort vorübergehend auf. Doch eine Dauerlösung ist das nicht.

Wer nach einfachen Antworten sucht, ist bei Ana Marwan an der falschen Adresse. (Foto: Una Rebic)

Wie man eigenwillig über schwierige Entwicklungen schreiben kann, führt auch Katharina Mevissens Roman "Mutters Stimmbruch" (Wagenbach) vor - er kreist um das Älterwerden, das Alleinsein, den Weg in die Sprachlosigkeit. Und Bachmann-Preisträgerin Anna Marwan beschreibt in "Wechselkröte" (Otto Müller Verlag) in poetischer Sprache ebenfalls existenzielle Erfahrungen, von Mutterschaft bis Einsamkeit: "Auch meine Zunge ist aus der Übung. Ich sollte mehr mit mir selbst reden", überlegt ihre Ich-Erzählerin.

Ganz anders geht Frédéric Schwilden zur Sache. Der in Erlangen lebende Autor und Welt-Journalist legt mit "Toxic Man" (Piper) einen Roman vor, der irgendwo zwischen Christian Krachts "Faserland" und Leif Randts "Allegro Pastell" popliterarisch schillert. Erzählt wird, autobiografisch unterfüttert, das Leben eines jungen Promi-Fotografen aus dem wohlsituierten Bürgertum, der extravagante Mode und Marken liebt, Deutschland spießig findet und gerne mal mit Hilfe von Drogen krass abfeiert, um schlussendlich mit Frau und Kind in Erlangen zu einer Art Ruhe zu kommen. Der "Toxic Man" des Titels ist dabei allerdings gar nicht er selbst, sondern der einst tyrannische, jetzt tote Vater, an dem sich der Ich-Erzähler immer noch abarbeitet.

Der Spießigkeit trotzen: Frédéric Schwilden. (Foto: Amely Deiss)

Jenen Ich-Erzähler kann man beim Lesen abwechselnd für einen verwöhnten Narziss, einen originellen Kopf und ein verstörtes Kind halten - und all das soll wohl irgendwie stimmen. Denn eine abgefuckte Kulturschickeria ist sich hier all ihrer Widersprüche und überspielten Traurigkeit nur zu bewusst. "Wir alle sind Klischees", schreibt Schwilden. "Und nur wenn wir das einsehen, haben wir die Möglichkeit, überraschend zu sein."

Es ist jedenfalls schon bemerkenswert: Während eine Autorin wie Irene Diwiak in ihrem "Weiße Rose"-Roman das ganz Normale an Menschen von einst herausarbeiten will, die heute aus guten Gründen als Helden verehrt werden, fürchtet in Schwildens Roman ein demonstrativ extravaganter 27-Jähriger von heute, dessen Lebensleistung bislang in Foto-Shootings mit Billie Eilish oder Jens Spahn gipfelt, nichts mehr als Normalität und Durchschnittlichkeit. Was das über unsere Zeit aussagt? Wahrscheinlich auch wieder mal nichts, was über Klischees hinausginge.

Eine größere Entfernung als zwischen den Romanen von Diwiak und Schwilden, die passenderweise ganz am Anfang und am Ende der Wortspiele vorgestellt werden, ist jedenfalls kaum denkbar. Doch sind diese unterschiedlichen Perspektiven ja das, was ein solch analoges Festival in unseren digitalen Stubenhocker-Zeiten überhaupt noch interessant macht. "Menschen leben aus Bequemlichkeit in ihrer eigenen Welt", schreibt Schwilden bedauernd. "Menschen entdecken nichts Neues mehr. Und darum geht es doch eigentlich. Das Neue. Das Unbekannte. Das nie zuvor Gesehene." Selbst wenn es toxisch sein sollte.

Wortspiele-Festival München, 8.-10. März, Muffatwerk/Ampere, Infos unter festival-wortspiele.eu

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