Zeitzeuge:"Tod durch schwere Arbeit und schlechtes Essen"

Zeitzeuge: Nick Hope ist 93 Jahre alt, aber die Erinnerungen an die Zwangsarbeit, die er als junger Mann leisten musste, sind noch präsent.

Nick Hope ist 93 Jahre alt, aber die Erinnerungen an die Zwangsarbeit, die er als junger Mann leisten musste, sind noch präsent.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Nikolai Choprenko kam als Zwangsarbeiter in die Munitionsfabriken der Nazis bei Wolfratshausen. Heute heißt er Nick Hope und kann mit beeindruckender Klarheit berichten, was er erlebt und wie er überlebt hat

Von Wolfgang Schäl, Icking/Wolfratshausen

Kann jemand, der die Zwangsarbeit in den ehemaligen Rüstungsfabriken im Wolfratshauser Forst, das Konzentrationslager Dachau und den Todesmarsch in Richtung Wolfratshausen überlebt hat, jemals vergessen, was er durchlitten hat? Die Schikanen, die Prügel, die Gefahren, die unmenschlichen Arbeitsbedingungen, die Angst, die Erniedrigungen, den immerfort nagenden Hunger? Und kann er jenen vergeben, die ihn an den äußersten Rand seiner Existenz getrieben haben?

Groll trägt der 93-jährige Nick Hope, der als Nikolai Choprenko 1924 in der Ukraine geboren wurde, nicht mit sich herum. Wohl aber stehen ihm, ungeachtet seines hohen Alters, klar und deutlich die Bilder vor Augen, die sich für immer in sein Gedächtnis gesenkt haben. Dass er lebt, und dass er von alledem, was ihm widerfahren ist, mit beeindruckender geistiger Klarheit berichten kann, ist für Sybille Krafft, die Vorsitzende des Historischen- und des Badehausvereins, ein Glücksfall, der ihr zufällig in den Schoß gefallen ist: Bei einem für BR Alpha geführten Interview mit Pfarrer Björn Mensing zum 50-jährigen Bestehen der Dachauer KZ-Gedenkstätte hatte der beiläufig erwähnt, dass es da noch einen Zeitzeugen gebe, der über seine Erfahrungen in den beiden Munitionsfabriken und von seinem Leben im Lager Buchberg berichten könne. In größter Eile gelang es, einen Termin noch am Maifeiertag im Vorführraum des Ickinger Filmproduzenten und Kameramanns Rüdiger Lorenz zu vereinbaren, unmittelbar vor dem Rückflug in die Vereinigten Staaten, in die Nick Hope Anfang der Sechzigerjahre emigriert ist.

Für die Dokumentationsstätte in Waldram ist die nun in Icking entstandene Aufnahme eine wahre Preziose, denn außer der Zwangsarbeiterin Anna Kubat, der der Historische Verein im Jahr 2008 ein Buch gewidmet hat, ist Hope der einzige Augenzeuge, der noch selbst über dieses Stück deutscher, aber auch lokaler Geschichte berichten kann. Wenn das Badehaus fertiggestellt ist, soll sein Bericht deshalb einen Platz unter den dort geplanten "Bäumen der Erinnerungen" finden.

Hope ist zwar ergraut, hinfällig wirkt er gleichwohl nicht. Und ihm ist eine gewisse Alterssouveränität zu eigen. Dass ihm die deutsche Sprache in den vergangenen Jahrzehnten fremd geworden ist, lässt sich nicht überhören, und so pendelt er immer wieder mal ins Englische, mitunter sogar ins Russische. Leicht hatte es seine Familie schon zu Stalins Zeiten nicht, unter dessen Diktatur Millionen Menschen verhungerten. "1942 kam Hitler, und die Leute haben gedacht, die Deutschen machen wieder Ordnung", sagt Hope. Stattdessen machten die Eroberer Jagd auf alle, die sich nicht ausweisen konnten, insbesondere auf junge Leute, "viele wurden als Partisanen verdächtigt und aufgehängt."

Andere ließen sich nach Hopes Bericht nach Deutschland abkommandieren und fanden sich am Münchner Ostbahnhof wieder, wo die "freiwilligen Zwangsarbeiter" geteilt wurden - Hope gehörte zu der Gruppe, die in die Wolfratshauser Munitionsfabriken geschickt wurde, 17 Jahre jung war er damals, von seiner Familie konnte er sich nicht mehr verabschieden, und er hat sie auch nicht mehr wiedergesehen.

Hope erinnert sich an die im Wolfratshauser Rüstungswerk an Pressen stehenden Frauen, die Munitionshülsen mit Nitropenta-Sprengstoff füllten. Die Ankömmlinge wohnten im Lager Buchberg, wo sich nach Hopes Schilderung in den zweistöckigen Baracken 16 bis 18 Personen ein Zimmer teilen mussten. Die Bedingungen waren denkbar miserabel: keine Ruhe, mangels Waschmöglichkeiten Läuse, Essen, das lediglich aus Wasser und wenigen gekochten Rüben bestand. "Wir waren nie satt und wurden immer schwächer", schilderte Hope die Bedingungen im Lager Buchberg, das auf der Geretsrieder Böhmwiese errichtet worden war.

Am Arm trugen die Ukrainer ein Zeichen "Ostarbeiter", der Arbeitstag dauerte zwölf Stunden, die Strategie des Hitler-Regimes war nach Hopes Schilderung klar erkennbar: "Tod durch schwere Arbeit und schlechtes Essen". Im Bereich der Pressen gab es nach einigen Monaten eine gewaltige Explosion, die große Schäden anrichtete und viele Todesopfer forderte. "Das war wie ein Erdbeben." Die Gestapo fand bei einer sofortigen Razzia Reste von Dynamitbeuteln unter seiner Matratze und bezichtigte Hope der Sabotage, mit der Folge, dass er ins KZ Dachau gebracht wurde. Die Häftlingsnummer weiß Hope noch sehr genau: 44 249. Das Leben dort schildert Hope so: "Man war nicht mehr Mensch, man war Robot." Zu den schlimmen Erfahrungen zählten auch grausame, öffentlich verabreichte Stockschläge, die bis zur Ohnmacht führten. Hope träumt noch heute immer wieder den selben Traum: "Ich hänge an einem Haus an der Dachrinne und drohe herunterzustürzen."

Mit der Niederlage der Nationalsozialisten war der Albtraum noch immer nicht zu Ende - Hope war auch beim berüchtigten Todesmarsch vom KZ in südlicher Richtung mit dabei. Auf der Fahrt von Dachau nach Icking hat Hope gemeinsam mit Krafft versucht, die Stelle zu finden, an der die aus dem KZ getriebenen Häftlinge endlich befreit wurden - es war eine Kiesgrube irgendwo zwischen Wolfratshausen und Aufkirchen. Bis zuletzt, bis zum 1. Mai 1945, herrschten Angst und Terror, die Wachmannschaften schossen jeden Häftling nieder, der sich nicht mehr weiterschleppen konnte. Die Todesmarschdenkmäler auf dieser Strecke künden noch heute davon. Sybille Krafft hat auch sie gemeinsam mit Hope besucht.

Die Spätfolgen des Nazi-Terrors, schwere Krankheiten und Alkoholsucht, musste Hope in der Nachkriegszeit noch überwinden, um zu seiner heutigen Gelassenheit zu finden: Die Bibel habe ihm geholfen, sagt Hope. Sie habe es auch ermöglicht, den Menschen zu vergeben, die ihm und anderen soviel Leid angetan haben. "Ich glaube an den lebenden Gott", sagt Hope. "Ich verzeihe allen".

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