Süddeutsche Zeitung

Ethik-Komitee:So könnte menschenwürdige Pflege von Demenzkranken gelingen

Welche Medikamente sollen Patienten bekommen? Dürfen sie Sex haben? Das AWO-Zentrum in Wolfratshausen hat als erstes Heim in Deutschland eine Kommission eingerichtet.

Von Barbara Briessmann, Wolfratshausen

Ein alter Mann, verheiratet. Doch das hat er vergessen. Seine Ehefrau erkennt der Demenzkranke nicht mehr. Aber verliebt ist er trotzdem, in eine Mitbewohnerin in seinem Seniorenwohnheim. Wie sollen sich die Pflegekräfte und Mitarbeiter in so einem Fall verhalten? Es der Ehefrau und den Angehörigen sagen oder schweigen? Diese Frage wurde aus den eigenen Reihen an das Ethik-Komitee des AWO-Demenz-Zentrums in Wolfratshausen gestellt, obwohl das Gremium noch nicht einmal zwei Wochen besteht. Ein einzelnes Heim mit einem eigenen Ethik-Komitee "gibt es sonst nirgends in Deutschland", sagt Heimleiter Dieter Käufer. Die Mitglieder sind für alle Fragen der Beschäftigten im Heim, aber auch der Angehörigen von Bewohnern offen. Das Komitee will Ansprechpartner und Orientierungshilfe sein.

Wie selbstbestimmt darf und kann ein Mensch mit Demenz in einem Heim leben? Die ethischen Fragen betreffen hier beispielsweise sexuelle Bedürfnisse, Körperpflege, Einnahme von Medikamenten, freiheitsentziehende Maßnahmen, aber auch das so genannte herausfordernde Verhalten von Bewohnern, etwa ständiges lautes Rufen oder selbst- und fremdgefährdendes Verhalten.

"Schon vor gut zwei Jahren hatten wir die Idee, selbst ein solches Ethik-Komitee ins Leben zu rufen", sagt Heimleiter Käufer. Damals habe sich sein Team über die Arbeit der Ethik-Kommission im Kreiskrankenhaus informiert. Kurz darauf war Gabi Strauhal, die Leiterin des Sozialdienstes im AWO-Zentrum, auf Sonnweid in der Nähe von Zürich, ein Heim nur für Demenzkranke und auf diesem Gebiet "der Leuchtturm in Europa", wie Käufer sagt. Sonnweid hat ein eigenes Ethik-Komitee. Strauhal informierte sich, machte anschließend noch die Zusatzausbildung zur Ethikberaterin im Gesundheitswesen. Jetzt ist sie Vorsitzende des hauseigenen AWO-Komitees, ihr Stellvertreter Dieter Käufer. Pflegedienstleiterin Sandra Lang sitzt auch mit im Gremium. Von außen kommen die Hospizbegleiterin Barbara Mehlich, Herbert Plischke von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in München, die psychologische Psychotherapeutin Britta Wiegele und Sophia Poulaki, Diplom-Psychogerontologin hinzu.

Die Mitglieder des Komitees

Das Ethik-Komitee im AWO-Demenz-Zentrum in Wolfratshausen wird für jeweils zwei Jahre gewählt und setzt sich als multiprofessionelles Gremium grundsätzlich aus internen und externen Mitgliedern verschiedener Berufsgruppen zusammen. Als Vorsitzende fungiert derzeit die Diplom-Sozialpädagogin und Sozialdienstleiterin im AWO-Demenz-Zentrums. Dazu hatte sie im Vorfeld eine Zusatzausbildung zur Ethikberaterin im Gesundheitswesen absolviert. Stellvertretender Vorsitzender ist Dieter Käufer, Diplom-Sozialpädagoge und Heimleiter des AWO-Demenz-Zentrums. Ebenfalls im Gremium vertreten ist die Kranken- und Gesundheitspflegerin Sandra Lang, die im Wolfratshauser Heim die Pflegedienstleitung inne hat. Als weitere, allerdings externe Mitglieder des Ethik-Komitees sind die Hospizbegleiterin Barbara Mehlich, die als Gemeindereferentin und in der Klinikseelsorge tätig ist, dabei, wie auch der Mediziner Herbert Plischke von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in München. Darüber hinaus gehören auch die psychologische Psychotherapeutin Britta Wiegele, die an der Memory Klinik des Zentrums für Akutgeriatrie in München Neuperlach arbeitet, sowie die Diplom-Psychogerontologin und Humanbiologin Sophia Poulaki dem Gremium an. cjk

"Die Externen haben aber einen Bezug zum Landkreis", versichert Käufer. "Wir kennen uns alle von der Zusammenarbeit im früheren Gerontologie-Forschungszentrum in Tölz." Vier Mal im Jahr tagt das Gremium, die Termine stünden schon fest. Ansonsten stehen sämtliche Mitglieder den Betreuenden, sowohl den Mitarbeitern wie auch den Angehörigen, ständig zur Verfügung. Falls ein Problem auftritt, bei dem zum Beispiel ein Mitarbeiter nicht weiß, welches Handeln oder Verhalten nun richtig oder falsch ist, kann er sich Rat holen.

"Wir haben alle Mitarbeiter in Sachen Ethik geschult - bis hin zu Reinigungskräften und Küchenhilfen", berichtet Käufer. Jeder dürfe Fragen stellen, die den Alltag mit den demenziell erkrankten Menschen betrifft. Regelmäßig sollen auch ethische Fallbesprechungen stattfinden.

"Themen tiefgreifender Art" würden laut Käufer gesammelt für die vier Termine des gesamten Gremiums. Zwei solcher Fragen haben sich im AWO-Heim bereits herauskristallisiert. Die erste: Sind Medikamente freiheitsentziehende Maßnahmen? Die zweite: die Sexualbegleitung. "Das beinhaltet sehr viel", sagt Käufer. "Haben Demente einen Anspruch auf einen Partner?", sei eine zu beantwortende Frage. Oder wie Mitarbeiter damit umgehen sollen, wenn sich ein Bewohner im Heim zärtliche Bande knüpfen will. "Das wird spannend", ist sich Käufer sicher.

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Quelle:
SZ vom 21.06.2016
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