Süddeutsche Zeitung

Kinder- und Jugendpsychiatrie:"Unsere Akutstationen sind massiv überbelegt"

In Wolfratshausen errichtet das kbo-Heckscher-Klinikum bis 2024 eine Tagesklinik für Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen. Die Ärztliche Direktorin Katharina Bühren erklärt, warum das Projekt so dringend gebraucht wird.

Interview von Marie Heßlinger

Wer als Minderjähriger unter einer psychischen Erkrankung leidet und im Nordlandkreis lebt, muss mitunter weite Wege auf sich nehmen: Zwar gibt es für Kinder und Jugendliche eine Ambulanz in Wolfratshausen, doch für eine umfassendere Betreuung müssen sie etwa nach München fahren. In zwei Jahren soll sich das ändern: Dann sollen zwei Tageskliniken entstehen, eine für Erwachsene, eine für Kinder und Jugendliche. Letztere, ein Ableger des kbo-Heckscher-Klinikums, soll 16 Plätze garantieren. Im Interview erklärt Katharina Bühren, neue Ärztliche Direktorin des Klinikums, warum diese dringend benötigt werden.

SZ: Frau Bühren, wenn alles glatt läuft, könnten die Tageskliniken in Wolfratshausen 2024 eröffnen. Ihre Pressesprecherin hat verlauten lassen, dass es dafür höchste Zeit sei. Warum?

Katharina Bühren: Die Planung der Tagesklinik in Wolfratshausen hatte einen langen Vorlauf. Unsere Bedarfsanalyse hat schon vor etlichen Jahren gezeigt, dass die tagesklinischen Plätze in Wolfratshausen notwendig sind. Die Corona-Pandemie hat für junge Menschen, die vorher bereits psychisch labil oder erkrankt waren, zu einer Verschlimmerung ihrer Situation geführt. Der Bedarf an Behandlungsplätzen, sei es ambulant, stationär oder teilstationär, ist dadurch deutlich gestiegen.

Welche psychischen Erkrankungen kamen in der vergangenen Zeit bei Kindern und Jugendlichen denn besonders zum Vorschein?

Je nach Alter sind unterschiedliche Störungen relevant und behandlungsbedürftig. Grundschulkinder kommen oft mit Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS, Teilleistungsstörungen wie Lese-Rechtschreibschwächen oder ausgeprägten Ängsten zu uns. Jugendliche leiden zum Beispiel an depressiven Störungen, Essstörungen oder Zwangsstörungen. Das wären alles Erkrankungen, die wir in einer Tagesklinik behandeln könnten. Wenn Patientinnen und Patienten akut selbstmordgefährdet sind, müssen wir sie stationär behandeln.

Gibt es bestimmte Krankheitsbilder, die durch Corona besonders verstärkt wurden?

Es gab einzelne Auswertungen von Krankenkassendaten, die darauf hinweisen, dass es einen deutlichen Anstieg an stationären Behandlungen von Magersucht gab. Andere Studien weisen darauf hin - aber diese Daten sind wirklich mit Vorsicht zu genießen - dass mehr Jugendliche nach Suizidversuchen auf Intensivstationen behandelt werden mussten. Auch der Medienkonsum scheint deutlich gestiegen sein. Das ist besorgniserregend, da dies mit einem Risiko verbunden ist, soziale und schulische Aktivitäten zu vernachlässigen und weniger Sport zu treiben. Einer Befragung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zufolge waren Kinder und Jugendliche während der Lockdowns vermehrt depressiv und ängstlich.

Welche seelischen Schwierigkeiten hat die Corona-Pandemie Kindern und Jugendlichen abverlangt?

Jugendliche berichten durch die Bank, dass ihnen ihre sozialen Kontakte sehr stark gefehlt haben. Die entscheidende Aufgabe im Jugendalter besteht in der Ablösung von den Eltern, im Erreichen von Autonomie. Wenn ich die ganze Zeit bei meinen Eltern bin, kann ich diese Entwicklungsaufgabe nicht wahrnehmen. Viele Kinder und Jugendliche haben außerdem beschrieben, je nach Lehrern, dass die Situation an Schulen für sie schwieriger geworden ist. Schüler, die schon vor Corona Schwierigkeiten in der Schule hatten, waren sehr schnell abgehängt. Wer einmal den Anschluss verpasst hatte, ist gar nicht mehr reingekommen. Als die Schulen wieder eröffnet haben, hat sich das für viele als massive Belastung herausgestellt. Das merken wir viel stärker als sonst. In den Ferien ist es ruhig. Aber in den Schulzeiten haben wir so viele Notfallvorstellungen, dass unsere Akutstationen massiv überbelegt sind und wir kaum wissen, wie wir die Patientinnen und Patienten versorgen sollen.

Inwiefern helfen Tageskliniken den Kindern und Jugendlichen?

Eine Tagesklinik bietet die Möglichkeit einer sehr intensiven und strukturierten Therapie, ohne die jungen Menschen dabei aus dem gewohnten familiären und sozialen Umfeld herauszureißen. Abends und am Wochenende sind sie zu Hause und können das Erlernte dort üben. In der Tagesklinik kann man nachjustieren: Was lief am Wochenende nicht so gut? Es besteht ein enger Kontakt mit den Schulen und Eltern. Die tagesklinische Behandlung kann auch ein ein guter Übergangsschritt zwischen stationärer und ambulanter Behandlung sein.

Welches Therapieangebot ist für die Wolfratshauser Tagesklinik geplant?

Ärztliches und psychologisches Personal, Mitarbeitende des Pflege- und Erziehungsdienstes werden multimodal zusammenarbeiten. Es gibt eine Schule, es wird Sprachtherapie, Bewegungstherapie, Kunst-und Ergotherapie geben. Elternarbeit ist ein wichtiger Punkt. Ein strukturierter Tagesablauf ist wichtig, das gibt vielen Kindern und Jugendlichen Halt.

Wie sieht der Alltag eines Jugendlichen aus, der in die Tagesklinik geht?

Die Betreuung in der Tagesklinik wird um 8 Uhr beginnen und um 16.30 Uhr enden. Vormittags werden die Kinder und Jugendlichen in den Unterricht gehen und Einzeltherapien haben. Die Nachmittage sind geprägt von Gruppenageboten, sowie den Spezialtherapien, gemeinsamen Aktivitäten und Elterngesprächen.

Wie lange werden Kinder und Jugendliche im Durchschnitt in einer Tagesklinik behandelt?

Das kommt auf die Störung und die Schwere der Symptomatik an. Vier Wochen ist wohl der kürzeste Zeitraum, die Therapie kann bis zu drei oder vier Monaten dauern.

Was raten Sie Jugendlichen und deren Eltern, die schon jetzt Bedarf nach einer tagesklinischen Betreuung hätten?

Im Raum Wolfratshausen gibt es aktuell leider kein Angebot. Die nächste Tagesklinik des kbo-Heckscher-Klinikums ist in München-Giesing. Das ist ein weiter Weg für jeden Tag. Eine andere Tagesklinik ist in Murnau-Hochried. Das ist von Wolfratshausen aus wahrscheinlich noch schwieriger zu erreichen. Ansonsten müsste man aktuell noch auf eine stationäre oder eine ambulante Behandlung ausweichen. Deshalb sind wir so froh, den jungen Menschen in Wolfratshausen auch bald ein Behandlungsangebot machen zu können.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5544868
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/aip/kafe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.