Im Grundrauschen des Supermarkteinkaufs ist nichts dem Zufall überlassen: Die Ketten positionieren ihre Waren nach strengen Kriterien und leuchten sie grell aus, dazu läuft aus Lautsprechern inzwischen fast überall ein eigener Radiosender, der mit gefälligen Hits, Werbung für Sonderaktionen und launigen Tipps fürs Wochenende die Kauflaune steigern soll. Das ist im großen Edeka-Markt an der Sauerlacher Straße beim Wolfratshauser Bahnhof nicht anders. Die meisten Kundinnen und Kunden, die an diesem Mittwochnachmittag durch die Gänge zwischen den Regalwänden streifen, nehmen all das nur unterbewusst wahr.
Um Punkt 15 Uhr aber wird es plötzlich anders: Marktleiter Tim Naumann drückt einen Knopf am Serverturm im Obergeschoss, und die Lautsprecher schweigen. Dann legt er zwei, drei Sicherungshebel im großen Kasten daneben um – und die grellen Deckenlichter im Mittelgang hören auf zu leuchten. Unten im großen Markt liegen nun große Teile im Halbdunkel. Man hört die Tüten rascheln, in denen der Mitarbeiter der Fleischtheke die Wurst einpackt, und das konstante leise Rauschen der weiterhin leuchtenden Kühlregale. Die Kassen am Ausgang piepsen zwar unaufhörlich weiter, aber viel leiser. Die Kundinnen und Kunden, deren Stimmen nun lauter zu hören sind, murmeln nur noch leise miteinander. Und Gerty Schoelen lächelt.
Denn die „stille Stunde“, die gerade zum zweiten Mal im Edeka-Markt von Marco Sostaric begonnen hat, geht zurück auf ihre Initiative. Sie soll den Einkauf vor allem für Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom erträglicher machen. Mitarbeiter seien angewiesen, ihre Kassen auf die leiseste Stufe zu stellen, sagt Marktleiter Naumann. Ganz ohne Piepsen, das auch den Kunden an den Selbstbedienungskassen die erfasste Ware signalisiert, geht es nicht. Allerdings ohne Durchsagen, die nun auch bis 16 Uhr verboten sind. Dafür dürfen Mitarbeiter im Notfall ihre Handys benutzen, wenn etwa eine neue Kasse aufgemacht werden sollte.
Die Idee zur bewussten Reizbegrenzung hätten Teilnehmer der Selbsthilfegruppen an sie herangetragen, die sie in Wolfratshausen für Erwachsene mit ADHS gibt, sagt Schoelen. „Sie haben mir erzählt, dass es ein Horror für sie ist, im Supermarkt einzukaufen“, sagt sie. „Es ist grell, dazu das dauernde Gedudel und Gepiepse.“ Die Filterfunktion im Kopf, mit der man gewöhnlich alle Reize, die nicht gebraucht werden, einfach ausblende, funktioniere bei den Betroffenen nicht richtig, sagt die Expertin. „Es kommt alles gleich heftig rein.“ Etwa fünf bis sieben Prozent der Menschen in Deutschland seien von Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen betroffen, sagt Schoelen. Dennoch musste sie erst einige Läden abklappern, bis sie das Pilotprojekt verwirklichen konnte. Im Edeka an der Sauerlacher Straße seien Inhaber Sostaric und Marktleiter Naumann dann sofort bereit gewesen, die „stille Stunde“ probeweise auszuprobieren, zunächst an vier Nachmittagen, immer mittwochs von 15 bis 16 Uhr. Schon die Premiere am 28. August war erfolgreich: Naumann und Schoelen berichten von zahlreichen positiven Rückmeldungen.
Zu den Menschen, für die der Einkauf ohne Geblinke, Gedudel und Gepiepse ein Segen ist, gehört Cornelia Groß. Die Wolfratshauserin ist deshalb auch beim zweiten Mal mit ihrem Sohn zum Spontan-Einkauf vorbeigekommen, „wegen der Ruhe“, wie sie sagt. Sie leide unter ADS, dem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, allerdings ohne die Hyperaktivität, für die das H steht. Die Geräuschkulisse in Supermärkten bringe sie oft aus dem Konzept. Besonders das Radio mit sich ständig wiederholenden Werbungen „macht einen manchmal echt fertig“, erzählt sie. „Dann fällt mir an der Kasse auf, was ich alles vergessen habe.“ Bei der „stillen Stunde“ sei das anders. „Jetzt kann man seine Gedanken besser sammeln.“
Auch Sandra Tröger ist der Unterschied deutlich aufgefallen. Allerdings habe sie erst an eine herausgeflogene Sicherung oder einen Stromausfall gedacht, sagt die junge Frau, die in einer Neubauwohnung direkt über dem Supermarkt wohnt und nach der Arbeit noch ein paar Lebensmittel braucht. Das Pilotprojekt gefällt ihr. „Ich find’s total angenehm“, sagt Tröger über die reizarme Atmosphäre im Markt. „Das nimmt den Alltagsstress, wenn man ruhiger einkaufen kann.“ Lärm habe sie in ihrem Job als Erzieherin ohnehin den ganzen Tag.
Ähnliche Kommentare gibt es auch von anderen Kundinnen und Kunden. Eine Dame hätte sich im Süßigkeitenregal etwas mehr Licht gewünscht, wie sie sagt, wisse dafür aber die Ruhe zu schätzen. „Wenn ich immer dran denke, würde ich nur noch um diese Zeit einkaufen gehen.“
Die durchwegs gute Resonanz bestärkt auch Naumann. Er könne sich gut vorstellen, die „stille Stunde“ als feste Aktion weiterzuführen, sagt der Marktleiter. Die sei schließlich auch für die Mitarbeiter eine wohltuende Entlastung in ihrem Arbeitsalltag. „Auch wir haben gemerkt: Das ist einfach eine entspanntere Stimmung“, sagt Naumann. „Da fährt man voll runter.“