Süddeutsche Zeitung

Porträtserie:"Sie sollen so sein, wie sie sind"

Lesezeit: 3 min

Die Wolfratshauser Fotografin Josée Lamarre hat 20 Menschen mit Down-Syndrom porträtiert. Ihre Schwarz-Weiß-Bilder erzählen Geschichten, die Farbe ins Leben bringen

Interview von Stephanie Schwaderer

"L(i)ebenswertes Leben" heißt eine Wanderausstellung, die an diesem Donnerstag nach Geretsried kommt. Im Blickpunkt sind: 20 Menschen mit Down-Syndrom - Mädchen und Buben, Frauen, Männer und ein Baby, die alle in der näheren Umgebung leben. Josée Lamarre hat sie porträtiert.

SZ: 20 Fotoshootings mit 20 Familien, Sie haben in dieses Projekt ein Jahr investiert - warum?

Josée Lamarre: Jeder Mensch ist etwas Besonderes, jeder ist etwas wert. In unserer Gesellschaft wird man oft mit falschen Augen angeschaut: Was hat sie an, welches Auto fährt sie? Das mag ich nicht. Ich möchte zeigen, dass es im Leben nicht um Perfektion geht. Jeder Mensch hat eine Geschichte zu erzählen, dazu muss man kein Rockstar sein. Diese 20 Familien haben mir ein Stück von ihrer Geschichte gezeigt. Das war für mich sehr, sehr schön.

War die Arbeit schwieriger als sonst?

Nein. Wenn ich an einer Haustür klingele, bin ich immer ein bisschen nervös, vor allem wenn es um Kinder geht: Werden sie sich fotografieren lassen? Mit den Eltern hatte ich natürlich schon vorher Kontakt. Eine Mutter, zum Beispiel, hatte mir gesagt, es könnte schwierig werden. Ihre Tochter, Alisha, ist sehr scheu. Sie hat sehr viel zu tragen: Down-Syndrom, dazu eine Form von Autismus und eine halbseitige Lähmung. Ich habe Alisha im Pferdestall und beim Reiten fotografiert. Das Glück in ihren Augen, das Glück in den Augen ihrer Mutter - das waren magische Momente.

"L(i)ebenswertes Leben": Ein Porträt von Alisha beim Reiten.

Geborgen: Martin mit seiner Familie.

Momentaufnahme: Es ist pure Lebensfreude, wenn Anian Musik macht.

Sie haben offenbar ein Talent, magische Momente einzufangen. Wie viel Zeit steckt hinter solchen Aufnahmen?

Manchmal eine Stunde, manchmal drei. Die meisten schönen Fotos entstehen nach der ersten halben Stunde, wenn die Leute vergessen, dass ich eine Kamera dabei habe. Wir reden, wir lachen. Ich lasse mir erzählen, wo sie sich wohlfühlen, und dort gehen wir hin. Sie sollen so sein, wie sie sind. Und wenn der Moment gekommen ist, drücke ich ab.

Sie sind schnell?

Sehr schnell! Und ich achte auf Details, auf das Licht, auf Kleinigkeiten. Die nämlich verraten oft mehr, als man denkt. Schuhe, zum Beispiel, sagen, wie ein Mensch geht, wie er sich bewegt. Ich fotografiere Menschen auch gerne von hinten. Die Körperhaltung sagt viel aus. Man muss nicht immer das Gesicht sehen.

Was muss auf einem Bild zu sehen sein?

Ein Bild muss Gefühle ausdrücken und eine Geschichte erzählen. Es muss den Menschen zeigen. Deshalb gehe ich mit den Leuten dorthin, wo sie das tun, was ihnen gefällt. Studio-Fotografie interessiert mich nicht.

Sind Menschen mit Down-Syndrom besonders fotogen?

Sie sind sehr warmherzig, ganz offen. Die meisten haben ein starkes Selbstbewusstsein: Sie umarmen dich, nehmen dich an der Hand, wollen dir alles zeigen. Das ist man nicht gewohnt. Auf der Straße oder im Supermarkt, da ziehen die Leute ein langes Gesicht. Und dann kommt jemand, der das ganze Leben schön findet, zu 100 Prozent. Oder der gerade zu 100 Prozent traurig ist und weint. Oder zu 100 Prozent sauer und stur. Sie schämen sich nicht.

Was macht man als Fotografin bei 100 Prozent Sturheit?

Bei Martin gab es einen solchen Moment. Er wollte sich nicht fotografieren lassen. Irgendwann habe ich ihm gesagt: Wenn du magst, darfst du mit meiner großen, schweren Kamera deine Familie fotografieren, und ich mache dann auch noch ein paar Bilder. Dann sind wir raus zum Steg, und alles war in Ordnung. Ganz zum Schluss habe ich ihn daran erinnert, dass er noch seine Eltern und Schwestern fotografieren wollte. Und das hat er dann auch noch gemacht.

Würden Sie auch andere Behinderte fotografieren?

Ja, das würde ich gerne. Auch kranke Kinder in Kliniken oder Menschen beim Sterben. Man ist ja nicht nur dann Mensch, wenn man gesund ist und lacht. Gerade dort, wo es anders ist, gibt es Dinge zu erzählen.

Sie belassen es in der Ausstellung und auf Ihrem Blog nicht bei den Bildern, sondern schreiben auch sehr persönliche Texte dazu. Texte, die grammatikalisch alles andere als korrekt sind.

Ich denke und schreibe in Französisch, meiner Muttersprache. In der deutschen Sprache kann ich mich nicht immer gut ausdrücken und mache immer wieder Fehler. Ich möchte trotzdem schreiben, weil die Kombination von Bildern und Texten noch intensiver ist. Ich möchte von meinen Begegnungen erzählen, die Emotionen teilen. Einige Leute haben zu mir gesagt: Josée, das musst du korrigieren lassen, das ist nicht professionell. Aber ich spreche, wie ich spreche. Wenn ich es immer wieder korrigieren lasse, ist es irgendwann nicht mehr von mir.

Was bleibt für Sie von dieser Ausstellung?

Die Liebe, der Respekt und die Geduld, mit der diese Eltern und Geschwister den Kindern und Erwachsenen begegnen. Der große Zusammenhalt in diesen Familien. Sie lassen einen das Leben wieder mit anderen Augen anschauen. Ich bin für mich ein Stück weitergekommen. Ich schimpfe nicht mehr so schnell mit meinen Söhnen.

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Quelle:
SZ vom 04.12.2014
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