Wolfratshausen:Schneesturm im Kopf

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Erschütternde Einblicke: Martin Kälberer (rechts) begleitet die Gert Anthoffs Lesung über das Leben eines Alzheimerkranken mit Musik. (Foto: Hartmut Pöstges)

Gerd Anthoff und Martin Kälberer zeichnen Innenansichten der Demenz

Von Benjamin Engel, Wolfratshausen

Alles beginnt mit dem Schnee: Frisch gefallene Eiskristalle legen sich wie ein weicher Teppich über den Boden, decken alles zu. Die feinen Flocken verwandeln die Landschaft in eine makellos weiße Fläche, alle Spuren der Menschen verschwinden darunter. Wenn der Leser mit Maarten Klein gleich zu Beginn des Romans "Bis es wieder hell wird" von J. Bernlef aus dem Fenster blickt, scheint seine Welt wohlgeordnet. Mit seiner Frau Vera lebt der 71-jährige Protagonist im Ruhestand in einem Haus im US-amerikanischen Bundesstaat Massachusetts und pflegt seine Alltagsroutine. Und doch nimmt die makellose Oberfläche des Schnees das zentrale Thema des Romans vorweg: das Verlöschen der geistigen Fähigkeiten des an Alzheimer erkrankten Maarten, erst fast unmerklich langsam und dann immer rasanter.

Der Schauspieler Gerd Anthoff schlüpft bei seiner Lesung im Foyer der Loisachhalle am Freitag in die Rolle von Maarten, lässt die 40 Zuhörer an dessen Gedankenstrom teilhaben. Es wird zu einem intensiven, berührenden Abend. Denn Anthoff gelingt es, die imaginierte Gefühlswelt des Alzheimer erkranken plastisch erfahrbar zu machen. Er spielt facettenreich mit Stimme und Gestik, bringt damit die Stimmungsschwankungen der Hauptfigur vom anfänglichen Verharmlosen der ersten Anzeichen der Krankheit, sowie die aufflackernde Einsicht und die plötzliche Wut über ein entfallenes Wort den Zuhörern beängstigend nahe. Martin Kälberer am Klavier verstärkt das Gefühl zunehmender Hilflosigkeit und Verzweiflung noch. In die anfangs harmonischen Piano-Melodien mischen sich zunehmend Dissonanzen und schräge Töne.

Mit fortschreitender Krankheit löst sich die vertraute Lebenswelt von Maarten stetig auf. Am Anfang sind es nur kleine Aussetzer: Er vergisst seinen Kaffee auszutrinken oder Feuerholz von draußen hereinzuholen, obwohl seine Frau ihn darum gebeten hat. Der Kranke entschuldigt das damit, eben schon immer etwas vergesslich gewesen zu sein. Dann aber plündert Maarten plötzlich den Kühlschrank, stopft unkontrolliert und maßlos alles in sich hinein, was er finden kann, weiß kaum mehr Tag und Nacht zu unterscheiden und erkennt schließlich nicht einmal mehr seine eigene Frau.

Als die schließlich eine Pflegerin ins Haus holt, flackert die Erkenntnis plötzlich auf: "Ich spalte mich von innen her auf." Dann verliert Maarten immer mehr an Halt, macht sich für die Arbeit fertig, obwohl er längst im Ruhestand ist. Und immer wieder sucht er nach Worten. Fast unerträglich lange dauert es, bis ihm die Fasern am Tischtuch als Fransen deutlich werden. Dann versinkt Maarten in Kindheitserinnerungen. Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto abgehackter spricht auch Anthoff, ballt die Hand zur Faust, wenn der Protagonist wütend wird und spricht in dessen klaren Momenten zärtlich und sanft. Fast quälend wird es, wenn Anthoff im Gedankenstrom von Maarten nur noch die Worte "Kopfschmerzen, Kopfschmerzen, Durst" hervorstößt und davon liest, dass er die Lippen bewege, damit vielleicht doch wieder Wörter in seinen Kopf kommen. Oder als der Erkrankte sich selbst im Fenster gespiegelt sieht und nur irgendeinen alten Mann im Schlafanzug erkennt.

Die Idee, mit dem Roman von J. Bernlef auf Tour zu gehen, ist zum 25-jährigen Bestehen der Münchner Alzheimer Gesellschaft entstanden. Dafür sollte Anthoff vor fünf Jahren eine Benefizlesung übernehmen und stieß auf das Buch des niederländischen Schriftstellers. Mit Bernlefs Schilderungen zwingt er das Publikum zu ernsthafter Auseinandersetzung und Nachdenken. Und doch endet der Abend mit viel Applaus. Und das ist auch im Sinne des Schauspielers. Denn wann immer er die Lesung mit Kälberer anbiete, spüre er oft viel Reserviertheit, sagt Antloff. Für ihn aber sei der Roman zunächst fiktiv und solle auch unterhalten.

© SZ vom 17.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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