Als sich auf dem Wolfratshauser Marienplatz Hunderte versammeln, um für Demokratie und gesellschaftliche Vielfalt zu demonstrieren, liegt der Münchner Anschlag erst wenige Tage zurück. Ein abgelehnter Asylbewerber ist dabei mit einem Auto in eine Menschenmenge gerast. Der Opfer dieser Tat und der Opfer des tödlichen Messerangriffs in Aschaffenburg gedenkt Christoph Kellner, Organisator der Demonstration „Wolfratshausen hoid zam“, ganz zu Anfang mit einer Schweigeminute. Es ist der Auftakt zu einer Veranstaltung, die unter dem Eindruck der Ereignisse für Nachdenklichkeit und Dialogbereitschaft wirbt.
Nach den Anschlägen von Aschaffenburg und München haben den Sozialarbeiter Kellner Kommentare in sozialen Medien erreicht, denen zufolge die Demonstration falsch sei. „Das hat mich nachdenklich gemacht: Ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt?“, fragt er in seinem eröffnenden Wortbeitrag. „Ja, verdammt nochmal!“, ruft er den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu – rund 500 sind es laut Polizei. Jetzt sei es erst recht an der Zeit, sich für die Werte einer pluralen Gemeinschaft zu engagieren. Er erinnert an die rechtsextremen und homophoben Schmier-Anschläge, die in Geretsried und Wolfratshausen in den vergangenen Wochen verübt wurden. Deshalb habe er mit Klaus Heilinglechner, Bürgermeister der Stadt Wolfratshausen, die Demonstration organisiert, mit einer Reihe von Redebeiträgen und Musik.

Ursprünglich hat Chris Bernhofer nicht auf der Rednerliste gestanden. Doch Bernhofer, der mit seinem Mann ein Ladengeschäft in der Wolfratshauser Marktstraße führt und sehen musste, wie seine Schokoladen-Manufaktur mit homophoben Schmierereien verunstaltet wurde, hat sich spontan dazu entschlossen, etwas zu sagen. Er gibt Einblick in die eigene Gefühlslage, sieht den Anschlag auf sich und seinen Ehemann als „kleine Glasscherbe eines wachsenden Scherbenhaufens“. Dennoch gibt er zu bedenken, dass Hass oft aus seelischen Verletzungen entsteht. Sein Plädoyer: den Dialog suchen „und einfach mal zuhören. Denn Respekt setzt das Wissen vom Anderen voraus.“ Dafür und für das Bekenntnis, trotz allem nie daran gedacht zu haben, Wolfratshausen zu verlassen, bekommt das Ehepaar viel Applaus. Die minderheitenfeindlichen Einschüchterungsversuche wirken nach in Wolfratshausen. Unmittelbar nach dem Anschlag haben sich erste zu einer Mahnwache vor Bernhofers Café versammelt, immer noch sind viele aus Solidarität platzierte Symbole in Regenbogen-Farben sichtbar.

Für die Vereine der Stadt spricht Walter Halamek. Als TSV-Funktionär bringt er eine sportliche Perspektive in die Redebeiträge, appelliert an die Fairness auch dem Andersdenkenden, dem Gegner gegenüber. Halamek differenziert, wie alle Redner an diesem Nachmittag. Die Diskussion, die Suche nach dem Kompromiss in der Demokratie sei eine Zumutung: „Aber was wir gewinnen, ist unsere Freiheit“, sagt er. Nur Hass habe dabei keinen Platz. Selbst bei der Diskussion um eine „realistische Migrationspolitik“ dürfe man eines nicht vergessen: „Wir reden über Menschen.“

Dem fügen Christine Hansen und Emanuel Rüff eine weitere Komponente hinzu. Beide engagieren sich im Team des Erinnerungsorts Badehaus und betten aktuelle Entwicklungen in einen historischen Kontext ein. Die Bundesfreiwillige und der Lehrer argumentieren im Sinne der Erinnerungskultur, aus der Hansen ableitet: „Ich bin nicht für die Taten meiner Urgroßväter verantwortlich, aber für meine eigenen.“ Auch sie fordert die Offenheit zum Dialog: „Mit reiner Ablehnung kann man keine Probleme lösen.“ Pfarrer Florian Gruber verweist ebenfalls auf die Anfänge des NS-Terrors durch Einschüchterung und den Versuch, durch Angstmache und Drohgebärden Proteste zu unterdrücken: „Halten wir zusammen!“, ruft er. Sein katholischer Amtskollege Gerhard Beham argumentiert mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde, aus der er auch folgert, „die Verunglimpfenden nicht zu verunglimpfen“.

Den Blickwinkel der Migranten bringt Ines Lobenstein in die Debatte. Lobenstein ist Leiterin des Wolfratshauser Asylhelferkreises und erinnert abermals an die Opfer der Anschläge der vergangenen Wochen und Monate. Viele der Geflüchteten, die sie an diesem Nachmittag auf den Marienplatz begleiten, hätten sie gefragt: „Ines, wie geht’s jetzt weiter?“ Auch sie habe sich das gefragt: „Wie weitermachen?“ Und mit Blick auf die Täter: „Wie haben wir diese Menschen so verlieren können?“ Ihr Vorschlag greift den anderer Redner auf: „Lasst uns einander achten, suchen wir das Gespräch.“ Dem stimmt auch Martin Lorenz von der Initiative „Gemeinsam für Demokratie und Vielfalt“ zu, aktiviert den Gemeinsinn der Demonstrierenden.
Klaus Heilinglechner bleibt das Schlusswort. Ganz bewusst habe er keine parteipolitischen Beiträge gewünscht, wollte die Demonstration nicht zum Wahlkampf-Podium werden lassen. Das ist gelungen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die trotz Eiseskälte zahlreich auf dem Marienplatz zusammenkommen, zeigen sich glücklich über den Versuch, in schwierigen Zeiten sachlich-engagiert Flagge zu bekennen.
