Süddeutsche Zeitung

Internationaler Weltgästeführertag:"Ich bin schon 10 000 Jahre tot"

Laienspieler der Loisachtaler Bauernbühne setzen seit 15 Jahren "Splitter aus der Wolfratshauser Stadtgeschichte" in Szene. Die dreistündige Tour begeistert Einheimische und Gäste, aber auch die ehrenamtlichen Protagonisten haben ihren Spaß.

Von Stephanie Schwaderer

Der Herzog und der Nachtwächter brauchen die bequemsten Schuhe. Wenn Martin Melf (Nachtwächter) und Bernd Krautschneider (Herzog Ludwig der Strenge) in ihre mittelalterlichen Gewänder schlüpfen und an der Alten Floßlände ihre Runde starten, liegen 15 Stationen und mindestens drei Stunden Gehen und Stehen vor ihnen. Die Stadtführung "Splitter aus der Wolfratshauser Stadtgeschichte" fordert von allen Teilnehmern ihren Tribut - und hat sich zu einer besonderen Attraktion in Wolfratshausen entwickelt. "Eigentlich hatten wir sie nur ein-, zweimal machen wollen", sagt Gabriele Rüth, die als "Marktgschlerf" eine gar schauerliche Rolle bei diesen Führungen übernimmt. "Aber nun bieten wir sie schon seit 15 Jahren an." Ein kleines Jubiläum also, das anlässlich des Internationalen Weltgästeführertags gefeiert werden will.

Zum Presse-Termin im Wolfratshauser Gasthaus Flößerei sind neun der 15 Protagonisten gekommen - im Kostüm, versteht sich. Fast alle sind Mitglieder der Loisachtaler Bauernbühne, die im vergangenen Jahr ihr 40-jähriges Bestehen gefeiert hat. Man kennt sich, man neckt sich, die Stimmung ist nach wenigen Minuten fast schon faschingsmäßig gut. Da thront der Heilige Nantwein (Wiggerl Gollwitzer) in seinem goldenen Rauchmantel, flankiert vom hageren Richter Ganter (Jörg Schwenger) und dem Flößer Kilian (Kurt Züge) und lässt milde ein paar spöttische Bemerkungen an seinem über die Jahre gewachsenen Bauch abprallen. Gastgeberin Gabriele Rüth hat die Haube mit dem dicken blonden Zopf abgelegt und würde nun gerne eine Begrüßungsrede halten, aber erst einmal sollen die Leute dann doch noch einen Kuchen bestellen. Oder lieber Apfelstrudel? Und über dem ganzen Hin und Her lässt der in ein wallendes grünes Gewand gehüllte Hermann Paetzmann immer wieder seine Stimme donnern: "I bin der Geist vom Wolfratshauer Bergwald. I geistert hier scho seit Urzeiten herum."

Die Wurzeln für das Spektakel liegen in einem Historienspiel namens "So vui Wunder", das die Loisachtaler Bauernbühne 2007 erstmals auf die Bühne brachte. Im Mittelpunkt: der Wolfratshauser Ortsheilige Nantovinus, ein Pilger, der in Wolfratshausen im 13. Jahrhundert den Märtyrertod starb. "Für das Stück haben wir uns all die wunderbaren Kostüme zugelegt", erzählt Rüth. Die Idee, sie für eine besondere Stadtführung zu verwenden, habe Sabrina Schwenger gehabt. Bei der Volkshochschule (VHS) Wolfratshausen stieß sie damit auf offene Ohren. Heimatforscher Martin Melf belieferte die Bauernbühne mit Aufzeichnungen über die Stadthistorie. Rüth verfasste daraus kurze, etwa zehnminütige Texte, die seither an den 15 Stationen mit Leben gefüllt werden. Die Bäckerin Planckh etwa erzählt von den Handwerkern und Zünften im Mittelalter. Und wem es dabei flau im Magen wird, der bekommt von ihr eine frische Breze zur Stärkung. Auch die Marktfrau Theres lässt Hungrige in ihren Obstkorb greifen.

Der Aufwand für die Ehrenamtlichen ist groß, daher wird die Führung nur zweimal jährlich von der VHS angeboten. Auf Anfrage sind Sonderführungen mit weniger Stationen möglich. Diese seien für den Tagestourismus wichtig, sagt Melf, der auch Leiter des städtischen Referats Bildung und Soziales ist. Er führt regelmäßig Schulklassen, Geburtstagsrunden oder andere Gäste durch die Stadt. Zudem gibt es in Wolfratshausen Themenwege, die jeder selbst begehen kann: einen zur Krimiserie "Hubert (und) ohne Staller" beispielsweise oder den "Mein-Bankerl-Weg", einen Historien- und den Bergwalderlebnispfad, den Kapellen- und einen Panoramaweg. Auch der Verein Flößerstraße und der Partnerschaftsverein Iruma-Wolfratshausen bringen Gästen oder Einheimischen die Stadt aus interessanten Blickwinkeln näher.

So intensiv und lustig wie bei der "Splittern aus der Wolfratshauser Stadtgeschichte" dürfte es indes nur selten zugehen. 30 bis 40 Leute seien bei den Führungen im Schnitt dabei, erzählt Melf. "Aber an einem verkaufsoffenen Sonntag sind uns auf einmal 150 hinterhergelaufen." Das sei dann auch für ihn eine Überraschung gewesen. Langweilig werde es bei den Führungen jedenfalls nicht. "Ich hab noch nie zweimal das Gleiche gesagt."

Die nächste Führung "Splitter aus der Wolfratshauser Stadtgeschichte" gibt es am Sonntag, 22. Mai, 14 bis 17 Uhr, Startpunkt ist an der Alten Floßlände, Josef-Bromberger-Weg 1. Anmeldung bei der VHS Wolfratshausen unter Telefon 08171/ 29866, info@vhs-wolfratshausen.de oder kurzfristig am Start. Die Teilnahme kostet 9 Euro. Anfragen zu den Flößerführungen unter info@floesserstrasse.eu

Der Heilige

Wiggerl Gollwitzer: "Ich bin Conradus Nantovinus, der Wolfratshauser Ortsheilige, und stehe normalerweise vor dem Haus, in dessen Keller ich 1286 eingekerkert war. Bevor ich auf dem Rost verbrannt wurde. Ich darf also den Urwolfratshauser spielen, auch wenn der ja eigentlich ein Preuß war. Der heilige Nantwein hat durch den Brandner Kaspar Weltgeltung erlangt und ist wohl die bekannteste Persönlichkeit der Stadt - nach Herrn Stoiber, versteht sich. Was besonders nett ist: Seit ein paar Jahren erwartet mich eine Anliegerin an meiner Station. Wenn die Leute weg sind, schenkt sie mir immer ein Glas Rotwein ein."

Die Verführerin

Gabriele Rüth: "Ich spiele eine Doppelfigur. Zunächst bin ich die Wirtin Rena Zapf, eine Verführerin und Engelmacherin, die mit dem Richter Ganter gerne krumme Geschäfte macht. Dem Nantovinus haben wir beide eine Kinderschändung angehängt. Das hatte Folgen. Ich wurde krank und bin gestorben. Seither muss ich als Marktgschlerf durch Wolfratshausen geistern. In meinem Text heißt es: Mal sitz i bloß auf na Bank, mal ras i wia a Sturmwind durch d'Strass. Des is aba no nix, wia wenn i in a Haus neischau. An dieser Stelle darf ich richtig unheimlich werden. Dann schauen mich die Leute mit großen Augen an. Vor allem die Kinder."

Die Bäuerin

Christine Dillinger: "Beim Einkaufen in Wolfratshausen passiert es mir immer wieder, dass die Leute sagen: Ah, da ist die Theres! Dabei heiß ich gar nicht Theres, sondern Christine, aber alle, die mich kennen, sagen Mausi zu mir. Bei der Bauernbühne spiele ich seit vielen Jahren die Bäuerin Theres, so dass mir das jetzt geblieben ist. Ist ja auch lustig. Meine Station ist am Birnmühlplatz, da steh ich mit einem großen Obstkorb. Wenn die Leute bei mir ankommen, sind sie meistens schon ein bisschen müde. Dann erzähle ich ihnen, dass ich auch dem Nantwein einen Apfel geschenkt habe, und lass sie in meinen Korb greifen."

Der Berggeist

Hermann Paetzmann: "Ich bin schon 10 000 Jahre tot und habe noch bei keiner einzigen Stadtführung gefehlt. Meine Station kommt nach der Kirche. Aber die Leute müssen mich rufen. Ich bin ein bisserl zwider und sarkastisch und lasse mich gerne bitten, bevor ich etwas zum Bergwald und zur Erdgeschichte erzähle. Zum Beispiel von dem See, der da war, wo heute Wolfratshausen ist - bis irgendoana an Stopsel zogn hat. Am liebsten mag ich meinen Auftritt: Wenn ich die Treppe, die zum Bergwald führt, hinunterschreite - wie eine große Revue-Treppe. Nur auf mein Gwand muss ich aufpassen, dass ich nicht draufsteig und runterrolle."

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