Kreisvorsitzender der Europa-Union:"Ein europäisches Verteidigungskonzept wird auch eine nukleare Abschreckungskomponente erfordern"

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Ein symbolträchtiges Bild für den Ukraine-Krieg und die Lasten, die die Ukraine zu tragen hat: Ein kaputtes russisches Fahrzeug steht in der Nähe eines Strahlungswarnschildes in der Nähe des Kernkraftwerks Tschernobyl. (Foto: Efrem Lukatsky/dpa)

Putins Überfall auf die Ukraine markiere eine Zeitenwende im staatlichen Miteinander auf dem europäischen Kontinent, die auch schwerwiegende Konsequenzen für die EU haben werde. Davon ist der Kreisvorsitzende der Europa-Union Alexander Lippert überzeugt, wie er im Interview erklärt.

Interview von Claudia Koestler, Wolfratshausen

"Brexit, Trump, Klimakrise, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg.. die Liste der Krisen wird lang und länger und nehmen zudem an Schwere zu", sagt Alexander Lippert. Welche Perspektiven und Optionen der EU zur Wahrung ihrer äußeren Sicherheit bleiben, darüber will der Kreisvorsitzende der Europa-Union nun in Wolfratshausen diskutieren, und zwar mit Jochen Kubosch, dem ehemaligen Pressesprecher der Europäischen Kommission. Wie sehr den Wolfratshauser Lippert die russische Invasion in der Ukraine bewegt und wie er deren Auswirkungen im Landkreis einschätzt, das verrät er vorab im Interview:

Herr Lippert, was haben Sie heute früh zuerst gehört: guten Morgen oder Dobrogo ranku?

Alexander Lippert: Ich gebe zu, es war ein klassisches "Guten Morgen!"

Das heißt, Sie haben keine ukrainischen Flüchtlinge aktuell bei sich zuhause aufgenommen?

Ich denke, es ist eine sehr persönliche Frage für jede Familie, ob sie diese Möglichkeiten schaffen kann und möchte. Auf alle Fälle habe ich hohen Respekt für all diejenigen, die Flüchtlinge bei sich aufnehmen.

Alexander Lippert, Kreisvorsitzender der Europa-Union (Foto: Privat/OH)

Sie sind als Kreisvorsitzender der Europa-Union in ganz besonderer Weise dem Miteinander der Völker verbunden. Wie hart trifft es Sie, die Bilder von einem Krieg in unmittelbarer Nähe zu sehen?

Das erschreckende ist der Rückfall in längst vergangen geglaubte Zeiten, als Angriffskriege noch als probates Mittel zur Durchsetzung von politischen Interessen in Europa galten. Putins Russland hat die europäische Friedensordnung, die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs bestand, verlassen, dieser Krieg wirft daher auch schwierige Fragen zum künftigen Miteinander in Europa auf.

Und wie sehen Sie das ganz persönlich?

Persönlich finde ich zudem dramatisch, dass wir als Menschheit eigentlich vor deutlich drängenderen Problemen stehen als die Befriedigung von Eitelkeiten einzelner Staatenlenker, schließlich droht uns im Laufe der nächsten Jahrzehnte durch Artensterben und Klimakrise der Verlust unseres Ökosystems. Dieses Thema sollte viel eher die volle Aufmerksamkeit der globalen Staatengemeinschaft erhalten.

Inwieweit engagieren sich denn der Kreisverband oder Sie persönlich in der Ukraine- oder Flüchtlingshilfe?

Gerade im Vorstand der Europa-Union sind wir gut mit der Osteuropahilfe vernetzt, die schon seit vielen Jahren wichtige Arbeit zur Stärkung der Ukraine leistet.

Wo sehen Sie dringenden Handlungsbedarf im Landkreis hinsichtlich der Krise?

Im Landkreis geht es in erster Linie um die Unterbringung und Integration von ukrainischen Kriegsflüchtlingen und die Kanalisierung von Hilfsmaßnahmen.

Und tut der Landkreis hier Ihrer Meinung nach genug?

Soweit ich es überblicke, sind die Hilfsangebote für ukrainische Flüchtlinge aktuell als ausreichend zu bewerten, in Wolfratshausen erfolgte zum Beispiel die Aufnahme von Flüchtlingen im Humplbräu, und in Kürze wird wohl auch die Mehrzweckhalle in Farchet geöffnet.

Sehen Sie eine Gefahr, dass der Krieg zu einem Flächenbrand werden könnte, sollten sich die europäischen Länder einzeln oder die EU geschlossen einmischen?

Die Sorge vor einem Flächenbrand ist groß, aber sie darf uns nicht lähmen. Putin will, dass wir Angst haben, und diesen Gefallen dürfen wir ihm nicht tun. Ich finde, der Westen hat bisher gut reagiert - weitgehend geschlossen, und die roten Linien Russlands auslotend. Klar ist, unser europäisches Wertesystem - liberale Demokratie und Pressefreiheit - wird aktuell in der Ukraine verteidigt, daher geht uns dieser Konflikt alle an.

Glauben Sie, dass Putin in seiner Reaktion unterscheiden würde zwischen einer Einmischung der Nato und der Einmischung der EU?

Ich glaube nicht. Es gibt militärische Schritte, die ein hohes Eskalationspotential haben, etwa die Errichtung einer Flugverbotszone oder die Entsendung von Bodentruppen, egal ob sie von der Nato oder von der EU kommen. Daher denke ich, dass wir uns als EU im aktuellen Konflikt auf die Nato verlassen und geschlossen im Bündnis handeln sollten, und zwar weiterhin mit der nötigen Mischung aus Zurückhaltung und Unterstützung für die Ukraine. Gleichzeitig ist Putins Angriffskrieg ein eindringlicher Weckruf für die EU. Wir wissen nun, dass wir neben einem militärischen Aggressor im Osten leben müssen, aber gleichzeitig haben wir aus der Präsidentschaft Trumps gelernt, dass sich die EU nicht mehr uneingeschränkt auf das westliche Bündnis verlassen kann.

Inwiefern?

Bereits kurz nach dem Brexit-Votum hat die EU den PESCO genannten Prozess ins Leben gerufen, um ein gemeinsames europäisches Verteidigungskonzept zu erstellen -Großbritannien hat alle Schritte in diese Richtung stets unterbunden- , und mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wird deutlich, dass ein solches europäisches Verteidigungskonzept auch eine nukleare Abschreckungskomponente erfordern wird.

Was wäre für Sie das wünschenswerteste Szenario, um Frieden in der EU zu gewährleisten und in der Ukraine schnellstmöglich zu schaffen?

Ich denke, herbe Rückschläge für Russlands Militär sind wichtig, um Putins durchaus dokumentierten "Appetit auf mehr" zu dämpfen. Auch müssen die Sanktionen aufrechterhalten und der schrittweise Ausstieg aus den fossilen, russischen Energielieferungen vollzogen werden, um Russland zu zeigen, dass zumindest die westliche Wertegemeinschaft eine militärische Aggression diesen Ausmaßes nicht duldet, und um das Land wieder auf einen friedlichen Pfad zurückzuführen. Mittelfristig muss Entspannungspolitik folgen, sowie die weitere Abrüstung strategischer, taktischer und konventioneller Kräfte.

Wäre eine Neutralitätserklärung der Ukraine aus Ihrer Sicht nicht genug?

Was die Ukraine angeht: Putin braucht eine "Trophäe", mit der er den Krieg zuhause als Sieg verkaufen kann. Die Neutralitätserklärung der Ukraine alleine wird nicht reichen, Gebietsabtretungen sind daher wahrscheinlich. Spannend auch die Frage, wie Sicherheitsgarantien gegenüber der Ukraine überhaupt aussehen könnten, schließlich bekam die Ukraine 1994 im Budapester Memorandum schon einmal Sicherheitsgarantien just von jenem Russland, das sie jetzt angreift. Und worin würden sich Sicherheitsgarantien von NATO-Staaten von einer NATO-Mitgliedschaft unterscheiden? Hier sind also noch einige Dinge zu klären. Zudem halte ich die spätere Aufnahme der Ukraine in die EU für ein denkbares Szenario, bei allem Ballast, den dieses Land mitbringt: schwerwiegende Kriegsschäden, ein schwieriges Verhältnis zu Russland, die Atomruine von Tschernobyl. Aber das darf uns nicht davon abhalten, das Richtige und Wichtige zu tun.

Die Veranstaltung der Europ-Union mit dem Titel "Gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik - nötiger denn je!" mit Jochen Kubosch findet am Dienstag, 26. April 2022, von 19 Uhr an im Wirtshaus Flößerei, Sebastianisteg 1, Wolfratshausen, statt.

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