Wer den Raum mit den Punkten betreten möchte, muss Überschuhe tragen, damit das Kunstwerk nicht zerstört wird. Boris hat sich gerade ein Betttuch übergestülpt, das ein Loch für das Gesicht ausspart. Auch dieses ist von oben bis unten mit Punkten überzogen, genauso wie der Raum. „Hier können sich die Gäste fotografieren lassen“, sagt er. Farbige Punkte, das war das Markenzeichen der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama. Inspiriert durch ihr Werk, haben die Schülerinnen und Schüler des Vereins Klecks – Schule der Phantasie, der in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen feiert, die Idee aufgenommen und umgesetzt. Zweifelsohne wird der Raum inklusive Punkte-Umhang zum perfekten Fotomotiv, um gleich via Instagram in die Welt entlassen zu werden.
Die Schule der Phantasie ist in Wolfratshausen mittlerweile fest verankert. Gegründet wurde der Verein 1999 auf Initiative von Margarete Oelbaum. Kinder sollten ihre gestalterischen Fähigkeiten frei entfalten. Der Fokus lag auf der Originalität der Darstellung, der Prozess des kreativen Tuns lag im Vordergrund.„Jedes Jahr gibt es bei uns ein Motto. Dieses Jahr ist es ,Auf den Punkt‘“, erklärt Kerstin Vetter, die Vorsitzende des Vereins. Das Thema zieht sich bei der diesjährigen „Klecksinale“, also der Jahresausstellung, am Samstag durch alle Räume: ob kleine Kacheln mit Punkten, oder das Logo der Schule, ein Klecks, aus bunten, runden Plastik-Verschlusskappen. „Alle 25 Gruppen haben zu diesem Thema gearbeitet“, sagt Vetter und lacht. „Wir sehen nur noch Punkte.“ Noch nie hatte sie so viele Schülerinnen und Schüler, vom Kleinkind bis zum Rentner, berichtet die Klecks-Vorsitzende. „Wir haben einen großen Andrang.“ Aus diesem Grund stellen die Jugendlichen und die Erwachsenen ihre Werke auch im Kunstturm am Schwankel-Eck aus.
An diesem Nachmittag, als sich die Schule für das große Jubiläumsfest herausputzt, ist auch die 19-jährige Ana Merica gekommen. Sie hat zwei Jahre lang einen Mappenvorbereitungskurs bei Kerstin Vetter belegt. Für die Aufnahmeprüfungen im Studienfach Architektur hat sie jeden Montag an ihrer Mappe gearbeitet. „Kerstin hatte so viele Ideen“, sagt Merica. „Sie ist eine große Inspiration.“ Die Schule der Phantasie sei für sie wie ein Zufluchtsort gewesen, erklärt die junge Frau. „Hier konnte ich alles ausblenden den ganzen Schul-Stress. Hier konnte ich mich entfalten.“ Sie hat für die Mappe gezeichnet, gemalt und Architektur-Modelle gebaut.
„Wir sind ein Gegengewicht zum Unterricht“, sagt Vetter. In der Schule fehle meist die Zeit, etwas zu entwickeln – und es müsse immer ein Ergebnis dabei herauskommen. Problemlösungsorientiert gehe es dagegen bei Klecks zu. Für Herausforderungen würden stets Lösungen gefunden. „Man muss auch lernen, mit Frustration umzugehen“, sagt Vetter. „Denn manchmal funktioniert etwas nicht, selbst wenn ich mir vorher einen Plan zurechtgelegt habe.“
Was es heißt, eine Gruppe zu leiten, hat Alena Bischoff in der Schule der Phantasie gelernt. Zunächst absolvierte sie ein Praktikum, inzwischen arbeitet sie seit vier Jahren für Klecks und leitet ihre eigene Gruppe. „Malen, töpfern, schnitzen oder Theater spielen, in Gruppen findet alles statt“, sagt die junge Frau, die Soziale Arbeit studiert. „Der Unterricht in der Gruppe fördert das soziale Miteinander.“ Im Jahreskurs kommen die verschiedensten Techniken dran. „Es gibt immer ein Lieblingsthema. Die Kinder bleiben oft jahrelang zusammen, manche unterrichte ich 14 Jahre lang“, erklärt Kerstin Vetter.
Tritt man ein in das Gebäude am Untermarkt 65, sieht man sogleich ein Regal voller Kunstwerke. In einem türkisfarbenem Ton-Schälchen liegt ein Blatt, ebenfalls aus Ton, und darin ein winziges Gefäß. „Das sind Objekte, die zur Abholung bereitliegen“, erklärt Daniela Satzinger. Sie ist zweite Vorsitzende des Vereins und leitet schon seit Jahren Kinderkurse. „Die Kleinen mögen gerne, wenn man ihnen etwas vorliest, während sie malen“, sagt Satzinger. Kinder, Vierjährige, haben hier die Gelegenheit, ihre Werke einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Auf einem Regal an der Wand stehen kleine Bilder. Ein Motiv zeigt ein hüpfendes Känguru. Der Umriss des Tiers ist mit kleinen Punkten gestaltet. „Ich habe den Kindern Vorlagen der Kunst der Aborigines gezeigt“, erklärt Satzinger. „Die Punkte haben die Kinder mit Wattestäbchen aufgetragen.“
Auf dem Tisch gegenüber liegt eine Murmelbahn, die in den Farben grün und blau angemalt ist. Schöpfer ist ein Kindergartenkind. An dünnen Holzlatten rollt die Murmel entlang. „Das dauert etwas, bis man versteht, wie es funktioniert“, sagt Kerstin Vetter. Momentan kommen an drei Vormittagen Kinder aus dem Waldkindergarten, weil dort das Personal fehlt.
Einige hundert Meter weiter zeigen die jugendlichen und erwachsenen Klecks-Schülerinnen und -schüler ihr Arbeiten im Kunstturm am Schwankl-Eck. Dort gibt es auf drei Etagen jede Menge zu sehen. Punkte sind auf jeden Fall überall zu finden, egal ob auf Hinterglasbildern, Acrylgemälden oder Collagen. Ein guter Eindruck von der Arbeit des Vereins, der aber nur ein Wochenende lang zu sehen ist. Wer Lust bekommt, sich selbst kreativ zu betätigen, kann von September an jeden Samstag in der Schule der Phantasie zur „Offenen Werkstatt“ kommen, ganz ohne Anmeldung.