Bericht aus dem Kriegsgebiet:"Wir werden weiterhin kämpfen, sonst gibt es keine Ukraine mehr"

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Bürgermeister Anatolij Beleiaus Brody (2.v.li.) berichtete beim Empfang seinem Wolfratshauser Amtskollegen Klaus Heilinglechner und anderen über die Situation in seiner Heimat. (Foto: Manfred Neubauer)

Wolfratshausen bekommt Besuch aus seiner Freundschaftsstadt Brody. Eindringlich schildert der Bürgermeister die Situation in seiner Heimat - und betont, dass ein ukrainischer Sieg für ganz Europa wichtig sei.

Von Celine Chorus, Wolfratshausen

Der Besuch der ukrainischen Delegation hatte eigentlich einen freudigen Anlass. Die Stadt Wolfratshausen feiert drei Jubiläen: 50 Jahre Städtepartnerschaft mit Barbezieux, 20 Jahre Japanischer Garten und 20 Jahre Patenschaft mit dem Flottendienstboot Oste. Gemeinsam wollte die Loisachstadt mit all ihren Partner- und Freundschaftsstädten feiern. Eingeladen war also auch eine siebenköpfige Delegation aus dem ukrainischen Brody. Die beiden Städte hatten 2009 einen Freundschaftsvertrag geschlossen - aber was ist schon normal, wenn das eigene Land von seinem Nachbarn angegriffen wurde?

Am Samstag erhielten die ukrainischen Gäste bei einem Empfang mit Bürgermeister Klaus Heilinglechner (BVW) die Möglichkeit, von der Situation in ihrer Heimat zu berichten. Der Sitzungssaal des Wolfratshauser Rathauses war bis auf den letzten Platz gefüllt. Einige Stadträte hatten für zwei Stunden ihren Wahlstand im Obermarkt verlassen, um den eindringlichen Schilderungen der ukrainischen Delegation zu lauschen. Unter den Gästen waren auch die Vorsitzende des Osteuropahilfe e.V., Maria Reitinger, sowie die beiden Vorstandsmitglieder Eberhard Hahn und Jörn Bertleff.

2018 hatte Wolfratshausen erstmals zu einem großen Treffen aller Partner- und Freundschaftsstädte sowie des Patenschiffs Oste eingeladen. "Damals hat aber niemand im entferntesten Sinne daran gedacht, wie sich die Situation einmal ändern kann." Dass ein Land angegriffen werde, mit dem man eine Städtepartnerschaft pflege, habe in Wolfratshausen alle extrem schockiert. Man habe versucht, die Menschen in Brody so gut es geht zu unterstützen, betonte Heilinglechner in seiner Rede: "Das zeigt, wie wichtig die Verbindung von Partnerstädten ist" - aber leider werde so was immer erst in Krisensituationen deutlich.

"Jeder dritte Bewohner Brodys ist in den Krieg involviert."

Brody liegt im Westen der Ukraine, knapp 1200 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Man könnte also meinen, dass die Stadt größtenteils vom Krieg verschont geblieben sei, aber auch dort sind die Folgen überall zu spüren. Die Stadt hat 3330 Geflüchtete, meist junge Familien mit Kindern, aus der Ostukraine aufgenommen. In Brody sind aktuell eine Hubschrauberbrigade und Mitglieder der Fernfunkaufklärung stationiert. Die Unternehmen bemühten sich zwar, weiterzuarbeiten, so Bürgermeister Anatolij Belej, allerdings würden viele Mitarbeiter ins Militär eingezogen. "Jeder dritte Bewohner Brodys ist in den Krieg involviert."

Unter den Gästen waren neben zahlreichen Mitgliedern des Stadtrats auch die Vorsitzenden des Osteuropahilfe e.V. (Foto: Manfred Neubauer)

Brody sei seit Kriegsbeginn sechsmal mit Raketen beschossen worden, aber zum Glück seien dabei keine Menschen verletzt worden. Insbesondere der vergangene Winter sei für die Bewohner Brodys sehr schwierig gewesen: Die Energieinfrastruktur werde von der russischen Armee systematisch angegriffen, sechs bis acht Stunden habe es in der Stadt keinen Strom gegeben. Auch das öffentliche Leben werde vom Krieg bestimmt. Größere Ausgaben für die Infrastruktur seien 2022 verboten gewesen. Derzeit würden nur nötige Maßnahmen umgesetzt, erzählte Belej, geplante Projekte könnten nicht begonnen werden. "Im Moment entwickelt sich unsere Stadt nicht."

Belej glaubt an einen Sieg

Die Menschen in der Ukraine wollten in einem freien und demokratischen Staat leben. Die Geschichte sei aber schon immer von russischer Feindseligkeit geprägt gewesen, betonte Belej. 1991 habe das Land zwar seine Unabhängigkeit errungen, aber es sei nur eine Unabhängigkeit auf dem Papier gewesen. Dementsprechend habe der Krieg auch nicht erst vor eineinhalb, sondern schon vor neun Jahren begonnen, als Russland die Krim annektierte. Derzeit gebe es kaum Städte, die nicht von Russland angegriffen werden. Jede Woche müssten sie gefallene Soldaten begraben: "Wir werden weiterhin kämpfen, sonst gibt es keine Ukraine mehr."

Mehrfach äußerte Belej seinen persönlichen Dank, dass die Deutschen "ihre Herzen und ihre Häuser" für die ukrainischen Geflüchteten geöffnet haben. "Dank Ihrer Hilfe, der des deutschen Volkes und der gesamten zivilisierten Welt, glaube ich, dass wir in diesem Krieg siegen werden." Er äußerte aber auch die Sorge, dass dies nicht der letzte Krieg in Europa gewesen sein könnte. "Russland wird sich erholen und dann das nächste Land angreifen." Auch Wolfratshausens Bürgermeister Heilinglechner betonte, dass die Probleme mit einem ukrainischen Sieg noch nicht gelöst seien: "Selbst wenn dieser Krieg bald endet, was wir alle sehr hoffen, wird die Ukraine noch lange unsere Hilfe brauchen."

Seit 30 Jahren unterhält der Osteuropahilfe e.V. Kontakt nach Brody und zu anderen Gemeinden in der Ukraine. Neben Geldspenden organisiert der Verein auch Sachspenden. Wer die Osteuropahilfe unterstützen möchte, kann dies über das Konto DE97 7005 4306 0055 0035 60 tun.

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