Matthias Wohlgenannt mag’s in seiner Kunst nicht allzu konkret. Er liebt es hintergründig, verschlüsselt, rätselhaft. Es gibt verschiedene Zugänge zu seiner Ausstellung „Transit“ in der Reihe „Künstlerische Interventionen“ im Erinnerungsort Badehaus. Man kann es intellektuell versuchen, wird aber vermutlich schwer verstehen, was eine Luftaufnahme des ehemaligen Lagers Föhrenwald mit dem Badezimmerteppich in Wohlgenannts Elternhaus gemeinsam hat oder wie das Baptisterium San Giovanni in Parma mit dem jüdischen Flüchtlingsschiff „Theodor Herzl“ zusammenpasst.
Zweiter Versuch der Entschlüsselung: ganz genau hinschauen. Wohlgenannt hat die drei Museumsräume des Badehauses mit sieben Radierungen ausgestattet. Er interpretiert die alte Kunst des Kupferstichs, der Ätzradierung auf einer Kupferplatte, modern. Seine Schraffuren sind geradlinig und mathematisch präzise neben- und übereinandergesetzt – dafür hat er sich sogar eine eigene Apparatur konstruiert. Zunächst projiziert er mit einem Beamer von der Decke ein Foto auf die Platte, dann schraffiert er dieses Motiv aus und überlagert es mit Hunderten weiteren Strichen, wobei er mithilfe einer hölzernen Drehscheibe siebenmal den Winkel verändert. Aus der Nähe betrachtet sind die Grundmotive seiner Arbeiten nicht mehr zu erkennen, sie zeigen sich erst aus der Ferne – wenn überhaupt. Und geben dann immer noch Rätsel auf. „Haifa“ und „Altschluderbach“? „Sète“ und „Heimenkirch“?
„Die Spuren, die ein Mensch in einem kleinen Raum hinterlässt“
Es bleibt nur Rätsellösungsversuch Nummer drei: mit dem Künstler sprechen. Er hat seine sieben Fotomotive intuitiv ausgewählt, hat aber auch viel darüber nachgedacht und seine Assoziationen zu Papier gebracht. Wir folgen also den gedanklichen Fährten seines „Transits“, wie er die Ausstellung genannt hat. Ein Badezimmerteppich? „Ich denke jetzt an die Spuren, die ein Mensch in einem kleinen Raum hinterlässt, darin er sich tagtäglich bewegt“, so zitiert Wohlgenannt den französischen Dichter und Philosophen Paul Valéry. Das Bild „Haifa“? Schon einfacher: Das zugrundeliegende Foto zeigt einen Ausschnitt des Schiffs „Theodor Herzl“, mit dem jüdische Migranten 1947 dem Land der Täter entfliehen wollten. Sie wurden in Palästina abgewiesen und nach Zypern und Deutschland deportiert. Womöglich ist die eine oder der andere damals in Föhrenwald gestrandet.
So lässt sich Bild für Bild erkunden. Die Ausstellungseröffnung gab dazu fein abgestimmte musikalische und schriftstellerische Unterstützung mit Wort- und Musikbeiträgen von Geigerin Corinna Schröder und Pianistin Lucie Wohlgenannt, Deutschlehrerin Anna Schwarz und Autor Frank Hornung. Erich Kästner kam zu Wort, Werke zeitgenössischer Komponisten – Philip Glass, Somei Satoh und Lepo Sumera – erklangen.
Im Gespräch mit Badehaus-Leiterin Sybille Krafft erläuterte Matthias Wohlgenannt seine künstlerischen Ideen. Auch jene zu dem ersten Werk, auf das Besuchende im Entree des Erinnerungsorts stoßen: Es ist ein Paravent aus Hunderten Brillengläsern, die Wohlgenannt in tagelanger Arbeit und mit selbst kreiertem Klebstoff zusammengefügt hat. Die Linse als Symbol: „Durch jedes dieser Gläser hat ein Mensch eine Zeitlang die Welt geschaut“, sagte der Künstler. Eine Art spiritueller Transit? Oder schlicht die Möglichkeit, durch verschiedene Gläser wechselnde Blicke zu erhaschen: mal scharf, mal verschwommen, mal weit-, mal kurzsichtig.
Wohlgenannt sammelt seit seinem Kunststudium in Leipzig Brillengläser; in seinem Atelier in Gelting füllen sie Kisten und Kartons. Seit vielen Jahren klebt der heute 49-Jährige sie zu Kunstwerken zusammen, die alle den Titel „Observatorium“ tragen und dazu jeweils eine „Bauteil-Nummer“ haben, das Werk im Badehaus ist „Bauteil Nr. 10“. In einem früheren Katalog schrieb sein Künstlerkollege Gerhard Schebler dazu einen Text, in dem es heißt: „Ein Observatorium schafft einen Standpunkt, von dem aus die Welt beobachtet, fokussiert und gebündelt werden kann. Hier der Augpunkt, das Gesetz in mir, dort das System unendlicher Lichtpunkte, der im Urknall explodierte Weltraum über mir.“
Lichtinstallation „kommtundgehtund“
Ohne Worte, ohne Assoziieren und Philosophieren erschließt sich diese Ausstellung kaum. Aber wer sich darauf einlässt, wird womöglich wie Sybille Krafft begeistert sein von einer neuen Perspektive, die sich vor dem Hintergrund der Geschichte des Badehauses eröffnet. Die Schau sei eine künstlerische „Zeitreise“, fand Krafft, „das ist der Begriff, der zu diesem Ort passt“. Denn vom Beginn der NS-Siedlung für Arbeiterinnen und Arbeiter der großen Rüstungsbetriebe im Wolfratshauser Forst über das jüdische DP-Lager mit seinem „Lebensmut im Wartesaal“ (Buch von Angelika Königseder und Juliane Wetzel über Föhrenwald, 1995) bis zu den Heimatvertriebenen, die schließlich dort angesiedelt wurden, habe es „so viele Durchgänge, Durchzüge“ gegeben.
Dieses „Hinübergehen, Übertreten, Übersiedeln“, von dem Wohlgenannt in der Einladung zu seiner Ausstellung schreibt, bedeutet für den Künstler auch: „Zu einer anderen Meinung übergehen oder in einen anderen Zustand übergehen. In jedem Fall ist mit Übergängen eine Veränderung des Standpunkts, ein Perspektivwechsel verbunden.“
An diesem Perspektivwechsel können Badehaus-Gäste mitwirken. Denn Wohlgenannt hat seine Radierungen auf leichten hölzernen Tafelgestellen angebracht, die von einem Raum zum anderen, von einem Exponat zum nächsten getragen werden dürfen – ja, sollen. Vielleicht schließt sich damit ein Gedankenkreis, der auf der Fassade des Badehauses Bild geworden ist. Dort hat Wohlgenannt eine pinkfarbene Lichtinstallation angebracht, eine ununterbrochen rundum geführte Handschrift: „kommtundgehtund“.
Und so schließt sich auch der Kreis der künstlerischen Intention, denn Wohlgenannt lässt bei seinem „kommtundgehtund“ bewusst alles offen: Aussage, Frage oder Imperativ? „Der Text selbst vertritt keine Haltung oder Meinung. Er spiegelt höchstens die Haltung des Betrachters.“ Ein guter Grund, ins Badehaus zu kommen. Zu gehen. Und wiederzukommen.
Erinnerungsort Badehaus, Kolpingplatz 1, Wolfratshausen-Waldram; bis 21. April 2025. Matthias Wohlgenannt bietet eine Auflage seiner sieben Radierungen einzeln und als komplette Edition an.
https://www.wohlgenannt-matthias.de/