Wolfratshausen:Die Last des Erlebten

Der Asylbewerber Khandan Khan Shabaq Khail versucht, sich in Deutschland zurechtzufinden. Doch die Erinnerungen an sein früheres Leben quälen ihn

Von Lukas Berg

Wolfratshausen: Khandan Khan Shabaq Khail ist oft allein in Wolfratshausen. Vor allem zu Deutschen hat er kaum Kontakt.

Khandan Khan Shabaq Khail ist oft allein in Wolfratshausen. Vor allem zu Deutschen hat er kaum Kontakt.

(Foto: Hartmut Pöstges)

"Mütze." Immer wieder wiederholt Khandan Khan Shabaq Khail das Wört "Mütze". Er hat Probleme mit dem Umlaut "Ü". Wieder und wieder: "Mutze" oder "Muotze", sagt er. Auch seine Klassenkameraden aus Pakistan tun sich schwer damit, "Mütze" richtig auszusprechen. Gelingt es ihnen, schauen sie sich stolz um; sie hoffen auf ein anerkennendes Nicken des Lehrers oder der Mitschüler.

Sechs Männer im Alter von 20 bis 30 Jahren sitzen in der Wolfratshauser Grundschule im Deutschunterricht. Auch wenn Shabaq Khail das "Ü" Probleme macht, gehört er zu den besten Schülern des Kurses. Lehrer Peter Kern ermahnt ihn immer wieder nicht vorzusagen. Shabaq Khail fühlt sich unterfordert im Unterricht. Er will schneller lernen, sich besser integrieren.

In Afghanistan arbeitete er als Anlagenmechaniker, in Deutschland drückt er wieder die Schulbank. Als Asylbewerber in Deutschland hat er noch keine Arbeitserlaubnis. Anderthalb Stunden dauert der Deutschkurs. Für Shabaq Khail zweimal pro Woche eine sinnvolle Abwechslung in einem ansonsten eintönigen Alltag.

Vor allem die Religion gibt den Tagen die notwendige Struktur. Jeden Tag beginnt der gläubige Sunnit vor Sonnenaufgang mit einem Gebet. "Allah gibt mir Kraft", sagt er. Jeder Tag bedeutet vor allem: Warten. Er wartet, dass etwas passiert. Er wartet darauf, dass der nächste Tag beginnt. In seinem Zimmer in dem Asylbewerberheim in der Badstraße sitzt er nach dem Morgengebet, liest ein Buch oder schaut Deutsches Fernsehen. "Ich muss mich ablenken. Sonst kommen Erinnerungen hoch, die ich nicht ertragen kann", sagt er in einer Mischung aus gebrochenem Deutsch und Englisch.

Denkt er zurück an die Zeit in Afghanistan, steigen ihm Tränen in die Augen. Er starrt auf den dunkelroten Teppich, will vor dem Gast nicht weinen. Und versucht, die Erinnerungen wegzuschieben. Erinnerungen an das Leben in Afghanistan und seine Flucht über Griechenland nach Deutschland, die so schrecklich sind, dass er sie nicht mitteilen kann. Er hat Angst vor Blackouts. Davor, unter dem Druck der Erinnerung zusammenzubrechen oder durchzudrehen und jemanden zu verletzten. "Ich kann darüber nicht reden. Ich habe Angst, dass alte Gefühle geweckt werden." Ines Lobenstein, die die Wolfratshauser Asylbewerber betreut, weiß, dass die meisten Flüchtlinge ihre Geschichte nicht erzählen wollen. "Sie sind von den Erlebnissen traumatisiert", erklärt sie.

"Es ist bislang noch nichts Schlimmes durch die Blackouts passiert", versichert Shabaq Khail. "Oft habe ich Angst, wenn mir Leute entgegenkommen, dass sie mich erschießen wollen", sagt er, und seine Stimme zittert. Über seine Flucht und seine Familie gibt er nichts preis. Lobenstein weiß von einer Frau und vier Kinder, die Shabaq Khail in Afghanistan zurückgelassen hat.

Am 6. September 2013 kam Shabaq Khail mit einigen anderen Afghanen am Münchener Hauptbahnhof an. Sie fragten sich durch zur Erstaufnahmeeinrichtung in München. Wenig später kam er nach Geretsried, wohnte dort zusammen mit Nigerianern. Bis ihn eine Botschaft erreichte, die ihn schockierte: Er sollte in die Containersiedlung verlegt werden. Für ihn stand fest, das würde er nicht schaffen. "Wegen meiner Vergangenheit konnte ich das nicht. Ich hatte schon Panik bei der bloßen Vorstellung, in solchen Räumen zu leben. Ich habe schlimme Sachen erlebt", sagt er. Seit knapp einem Monat lebt Shabaq Khail nun im Asylbewerberheim in Wolfratshausen. Er ist einer von 61 Asylbewerbern, die in der Stadt unter anderen von Caritas-Mitarbeiterin Lobenstein betreut werden. Die meisten haben es mit ihrer Familie nach Deutschland geschafft.

Sein Zimmer ist etwa 16 Quadratmeter groß, darin ein Tisch, ein Eckschrank, Bett, Sofa, zwei Stühle, ein Fernseher. Hier verbringt er die meiste Zeit. Der Fernseher läuft ununterbrochen. Auf einem Dauerwerbesender wird gerade die neuste Teflonpfanne präsentiert. "Egal, ob ich nichts mache, so wie jetzt frühstücke oder lese: Der Fernseher ist immer an. Hauptsache ich höre deutsche Wörter. Nur Kriegsfilme muss ich immer schnell wegschalten", sagt er lächelnd. Der Deutschkurs, den er montags und donnerstags besucht, ist eine der wenigen Abwechslungen. Shabaq Khail würde gerne Sport machen, in ein Fitness-Studio gehen, doch dafür reicht das Geld nicht. 302,18 Euro pro Monat hat ein Asylbewerber für Essen, Kleidung, Telefon, Fahrtkosten und alles andere.

Der Afghane geht durch die Altstadt über den Obermarkt und den Sebastiani-Steg zur Hammerschmied-Schule. "Manchmal sehe ich, wie mich die Leute angucken und ein Problem damit haben, dass ich hier lebe", erzählt er nachdenklich. Aber dass ihn jemand angegriffen habe, sei ihm hier noch nicht passiert. Vor der Schule trifft Shabaq Khail die Pakistanis, deren Sprache er spricht. Seine Heimatprovinz Paktia, zirka 100 Kilometer südlich von Kabul, grenzt an Pakistan. Deutsch ist die mittlerweile sechste Sprache, die er lernt. Der Unterricht beginnt um 10 Uhr. Peter Kern unterrichtet die Asylbewerber ehrenamtlich. Der pensionierte Hauptschullehrer erinnert sich noch gut an die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die meisten hätten keine Möglichkeit bekommen, Deutsch zu lernen. "Der selbe Fehler darf nicht noch einmal passieren", sagt er. Shabaq Khail sitzt in der ersten Reihe. Er fühlt sich oft unterfordert, will mehr Unterricht. Anderthalb Stunden zwei mal die Woche reichen ihm nicht.

Nach dem Unterricht geht es zurück in seine Wohnung. Diesmal ist er nicht alleine. Perwaiz, ein afghanischer Freund, wartet vor dem Haus. Sie haben sich auf dem Weg nach Deutschland kennengelernt. Perwaiz spricht kein Deutsch und kaum Englisch. Er stammt aus Kabul und lebt nun in Memmingen. Beide sind nicht nur Kriegsflüchtlinge, sie haben auch die selbe Religion, sind Sunniten. Oft treffen sie sich zum Beten in einer Moschee in München.

Nun kochen sie zusammen. In der kleinen Küche, die sich Shabaq Khail mit drei anderen Afghanen teilt, bereiten sie einen afghanischen Eintopf mit Hühnerfleisch und Kartoffeln zu. "Alles, was ich will, ist ein bisschen Frieden. Dafür stehen auch Allah und der Islam", sagt Shabaq Khail, während er Brotteig knetet und die Fladen in den Ofen schiebt. Wer richtig bete und die Regeln befolge, lebe halal und Allah helfe ihm, betont er. Shabaq Khail trinkt keinen Alkohol, raucht nicht, isst kein Schweinefleisch. Er befolgt den Ramadan und betet jeden Tag fünfmal. "Der Islam ist gut. Für uns bedeutet er: Was du für dich selber willst, das gib auch jedem anderen."

Während der Eintopf vor sich hinköchelt, gehen beide in Shabaq Khails Zimmer um zu beten. Er spricht von den Unterschieden in Deutschland. "Dass die Frauen hier keine Burka tragen, ist kein Problem für mich. Ich lebe jetzt in Deutschland. Sie müssen aber wissen, dass sie somit nicht halal leben", sagt er und lacht.

Im Fernsehen geht es immer noch um die Vorteile der Teflonpfanne. Die beiden Afghanen sitzen auf dem Boden und essen mit den Händen. Es riecht nach Zwiebeln, Tomaten und orientalischen Gewürzen. Sie sprechen Paschtunisch, eine der beiden afghanischen Amtssprachen. Zu Deutschen hat Shabaq Khail kaum Kontakt, außer zu seinem Deutschlehrer, einigen Mitarbeitern des Helferkreises und Behördenvertretern. Das findet er schade. Umso mehr freuen ihn die seltenen Besuche von Perwaiz.

Er weiß, was auf ihn zukommt, wenn sein Freund geht: Warten, beten, schlafen, beten, essen. Er wird sich weiter gedulden müssen. Er würde gerne arbeiten, darf aber nicht. Er hofft, er kann in Deutschland bleiben. Er hofft, er kann Deutschland etwas zurückgeben, wie es ihn der Islam gelehrt hat. "Viele Menschen in Deutschland haben mir geholfen. Ihnen bin ich dankbar." Zurück nach Afghanistan will er auf keinen Fall. "Das wäre das Schlimmste für mich. Ich hätte keine Chance", sagt er. Seine Augen werden wieder feucht. Er starrt auf den roten Teppich.

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