Süddeutsche Zeitung

Wolfratshausen/Bhopal:Im Land der Gegensätze

Die 15 Jahre alte Mira Schneider aus Wolfratshausen hat sich für ein Auslandsjahr in Indien entschieden. Für zehn Monate lebt die Gymnasiastin in einer Gastfamilie und lernt Kultur, Sprache und Leute kennen.

Von Floriana Hofmann, Wolfratshausen/Bhopal

Zehn Monate in Indien: So lange wird die 15-jährige Mira Schneider aus Wolfratshausen in der 1,8-Millionen-Einwohnerstadt Bhopal im Bundesstaat Madhya Pradesh in Zentralindien bleiben. Im Juli dieses Jahres begann ihre Reise. Mira, die das Rainer-Maria-Rilke-Gymnasium in Icking besucht, lebt derzeit bei einer Familie, zu der die Gasteltern und der siebenjährige Gastbruder Anant gehören. "Ich finde, ein Jahr im Ausland ist einfach eine unglaubliche Chance, reifer, selbständiger und erfahrener zu werden. Man bekommt eine zweite Familie und Freundschaften, die lange halten werden", sagt Mira.

Die junge Wolfratshauserin hat ein Stipendium des Programms "Botschafter Bayerns" des bayerischen Kultusministeriums erhalten. Damit wird ein Großteil der Kosten finanziert. Die Organisation Youth for Understanding (YFU) veranstaltet das Auslandsjahr und kümmert sich um sie. In eines der "Mainstream"-Länder wie die USA, Australien oder Kanada habe sie aber nicht gewollt. Stattdessen entschied sie sich bewusst für Indien, wegen der großen Kulturvielfalt, und weil sie dort eine neue Sprache lernen kann. Außerdem habe sie eine gute Freundin, die zwar in Dubai lebe, aber Inderin sei. In den zehn Monaten auf dem Subkontinent könne sie nun richtig in die Kultur eintauchen, sich auf das Land und die Menschen dort einlassen.

Ihre Eltern hätten ihre Wahl unterstützt: "Sie fanden es cool", sagt Mira. Dass in den Medien immer wieder von Gewalt gegen Frauen berichtet wird, beunruhigt Mira nicht: "Hier wird viel mehr auf mich aufgepasst, deswegen mache ich mir keine Sorgen. Da hätte ich mehr Angst in den USA, wo jeder eine Waffe tragen kann." Ihre Mutter Eva Schneider sagt: "Was wir hier mitbekommen, ist nur ein kleiner Ausschnitt der indischen Wirklichkeit." Sie findet es mutig und wertvoll, dass ihre Tochter dieses Auslandsjahr macht. "Dieses Jahr wird eine tragende Rolle in ihrem Leben spielen." Mira selbst denkt, "dass das die beste Entscheidung meines Lebens war".

Ehe die Reise begann, besuchte die 15-Jährige ein Vorbereitungsseminar, in dem es um Sitten und Gebräuche ging, aber auch darum, wie man damit umgeht, wenn man eine schwierige Phase durchmacht. Die Schülerin hat viele Reiseführer gelesen und versucht, sich per Buch und einer App für ihr Smartphone die Sprache Hindi anzueignen. "Im Nachhinein war beides unnötig, da die Sprachbeispiele häufig falsch sind." Einige Wörter und Sätze kann sie mittlerweile auf Hindi sprechen, in der Schule bekommt sie einen zusätzlichen privaten Sprachunterricht. Mit ihren Lehrern und Schulfreunden spricht sie hauptsächlich Englisch. Miras Gastmutter arbeitet an einer internationalen privaten englischsprachigen Schule, ihr Gastbruder lernt seit dem Kindergartenalter Englisch. Nur ihr Gastvater und einige Verwandte sprächen kein gutes Englisch. "Das ist auch noch einmal ein Ansporn, Hindi zu lernen."

Mit ihrer Gastfamilie verstehe sie sich gut, erzählt sie. "Mein Bruder nennt mich Schwester und seine Eltern Tochter. Daher habe ich auch das Gefühl, ein richtiges Familienmitglied zu sein." Die Familie wohnt in einer "Gated Community", Mira hat ein eigenes Zimmer und ein eigenes Bad. Sie hilft Anant bei den Hausaufgaben, manchmal schneidet sie Gemüse für das Abendessen. Ihre Gastfamilie beschäftigt zwei Angestellte, die sich um den Haushalt kümmern. Von Montag bis Samstag hat Mira Unterricht, sie muss dafür um 5.40 Uhr aufstehen. Zum Frühstück gibt es Toast mit Marmelade, Mango, Cornflakes aber auch Reis oder Curry. Danach wird sie in die Schule gefahren, der Weg dorthin dauert rund 25 Minuten. Der Unterricht findet auf Englisch statt, Schulbeginn ist um 7.30 Uhr. Wie alle Schüler in Indien trägt auch die Wolfratshauserin Schuluniform. Der Schulstoff sei anspruchsvoller als der an bayerischen Gymnasien, vor allem in Fächern wie Chemie oder Mathematik. Mira hat einen speziellen Stundenplan mit vielen Tanz-, Instrumental-, Kunst- und Sportstunden.

Der Unterricht endet um 12.20 Uhr. Ein großer Unterschied zur Schule in Deutschland sei, dass es ausschließlich Frontalunterricht gebe. Außerdem sähen die Schüler die Lehrer als wirkliche Respektspersonen an und sprächen sie nur mit "Sir" oder "Madam" an. Ihre Mutter ist von der Qualität des indischen Schulsystems überzeugt. Mira hat sich inzwischen mit vielen Indern angefreundet, die sie in der Schule kennengelernt hat. An ihrer Schule sind insgesamt rund 4000, in ihrer Klasse 24 Schüler.

Mittags isst sie in der Schule. Abendessen gibt es entweder zu Hause bei ihrer Gastfamilie oder alle zusammen gehen gemeinsam ins Restaurant. Am besten schmecken ihr indisches Brot mit Gemüse oder "Samosas", gefüllte Teigtaschen, die als Snack gegessen werden. Zu Beginn des Auslandsjahres sei sie noch nicht so mit dem scharfen indischen Essen vertraut gewesen, berichtet sie, obwohl auch ihre Mutter in Deutschland häufig Curry koche. "Aber die deutsche Definition von Schärfe ist wirklich nichts gegen das indische Scharf." Nun habe sie sich daran gewöhnt.

In ihrer Freizeit lernt sie Hindi, übt ihr Instrument, eine indische Trommel, oder geht ins Kino. Sie verbringt viel Zeit mit ihrer Gastfamilie, sie gehen etwa gemeinsam in Einkaufszentren. Kleidung ist in Indien günstiger als in Deutschland: Ein Jeansmodell, das hierzulande knapp 90 Euro kostet, kaufte sie in Indien für umgerechnet rund 35 Euro. In ihrer Freizeit trägt sie meistens Jeans und T-Shirts, keine Saris. Das sei kein Problem, da sie mit 15 Jahren in Indien noch als Kind gelte. Sie bevorzugt es, eine "Kurta", ein kragenloses, weites Hemd, das fast bis zu den Knien reicht, und Leggins zu tragen.

Am Besten gefällt ihr an Indien, dass die Menschen dort so freundlich sind: "Dass sich alle um einen kümmern und sorgen. Man wird einfach von allen wie eine eigene Tochter behandelt." Allerdings werde sie von den Menschen sehr häufig angestarrt: "Ich bin blond, blauäugig, groß und blass", beschreibt sie sich selbst.

An das indische Klima habe sie sich schnell gewöhnt: "Inzwischen friere ich mit den Indern mit, wenn es mal unter 27 Grad wird", erzählt sie. Momentan sei es sowieso "etwas kühler", 30 bis 35 Grad. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit aber fühle sich das heißer an - es ist gerade die Zeit des Monsuns. Was ihr fehlt: "Ich vermisse irgendwie die Sterne." Indische Städte hätten stark mit Luftverschmutzung zu kämpfen.

Im kommenden Frühling, wenn sie wieder in Deutschland ist, wird sie freiwillig zurück in die zehnte Klasse gehen. Denn sie will sich nicht den Stoff selbst beibringen, sondern den Unterricht besuchen. Sie hat vor, Abitur zu machen und zu studieren. Was genau, weiß sie noch nicht - was sie sicher weiß, ist, dass sie nach dem Abschluss noch einmal ins Ausland gehen will.

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Quelle:
SZ vom 30.08.2016
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