Jubiläum:Staatsakt mit drei Glas Freibier

Vor 60 Jahren wurde die Marktgemeinde Wolfratshausen zur Stadt ernannt. Ein Rückblick auf die Feierlichkeiten und deren Vorbereitungen offenbart auch kuriose Besonderheiten aus dem Alltag von 1961

Von Konstantin Kaip

Der erste Brief an die Stadt Wolfratshausen wurde am 9. Oktober 1961 verfasst. Absender ist das Bayerische Innenministerium in München. Der damalige Innenminister und spätere Ministerpräsident Alfons Goppel, der das Schreiben unterzeichnet hat, teilt darin mit, was schon in der Anschrift zu lesen ist: "Dem Markt Wolfratshausen wird auf Antrag gemäß Art. 3 Abs 1 GO die Bezeichnung ,Stadt' verliehen." Vor genau 60 Jahren also markiert dieser Brief die Geburtsstunde der Stadt. Die Urkunde dazu, ebenfalls von Goppel am 9. Oktober unterzeichnet, ist noch heute im Rathaus gerahmt zu sehen. Feierlich überreicht wurde diese aber erst zwei Monate später, am 2. Dezember.

Ihren 60. Geburtstag wird die Stadt heuer klanglos erleben. Aufgrund der Corona-Pandemie wird auf größere Feierlichkeiten verzichtet. Lediglich auf dem Instagram-Kanal der Stadt soll es, ganz zeitgemäß, ein Quiz zum Jubiläum geben. Und der Fotoklub zeigt derzeit eine Ausstellung mit Bildern von 1961 im städtischen Gebäude am Loisachufer. Vor zehn Jahren, zum 50. Jubiläum, zogen mehr als 1000 Menschen zur Musik aller Partnerstädte durch die Stadt, wenn auch ein paar Tage zu früh: Das große Fest mit Umzug stieg 2011 schon am 3. Oktober, und der Historische Verein hatte seine Geschichtsrevue zur Stadtgründung bereits eine Woche vorher in der Loisachhalle aufgeführt. Heuer mag der Anlass zwar geringer sein. Der runde Geburtstag rechtfertigt jedoch eine Rückschau, die einiges über das Leben in Wolfratshausen 1961 offenbart.

Der Brief des Innenministeriums war im Rathaus der Marktgemeinde sehnsüchtig erwartet worden, seit man den Antrag auf Stadterhebung am 20. April dort eingereicht hatte. Der Beschluss dazu war einstimmig im Marktgemeinderat am 6. Februar gefallen. Die Süddeutsche Zeitung, die damals noch nicht mit einer Lokalausgabe in Wolfratshausen vertreten war, berichtete davon am 9. Februar in der Rubrik "Aus den Landkreisen um München": "Während die Sitzungen des Gemeindeparlaments gewöhnlich kaum Zuhörer anziehen, hatte die Erörterung dieser Frage viele Bürger ins Rathaus gelockt", ist dort zu lesen. Eine Stadterhebung sei in Wolfratshausen bereits seit Jahren diskutiert worden, die Mehrheit der Einwohner habe aber bisher "aus verständlichem Bürgerstolz am ,Markt' festgehalten". Bürgermeister Peter Finsterwalder (CSU), liest man, habe den Beschluss nicht nur mit der zunehmenden Einwohnerzahl und den wachsenden Aufgaben des Marktes, der ja damals auch Kreissitz war, begründet - sondern auch "mit der Befürchtung, die erst vor zehn Jahren gegründete Gemeinde Geretsried würde möglicherweise eher das Stadtrecht erhalten als die Marktgemeinde mit ihrer jahrhundertealten Tradition". Der Brief vom 9. Oktober war also auch ein kleiner Sieg im Wettlauf mit der Nachbarkommune, die augenscheinlich damals schon als Rivale betrachtet und erst im Sommer 1970 zur Stadt wurde.

Dass die Urkunde erst nachgereicht werden sollte, erlaubte es Wolfratshausen, die Stadterhebung als feierlichen Akt vorzubereiten. "Das ist eines der wenigen historischen Ereignisse, von denen man vorher schon weiß", sagt Stadtarchivar Simon Kalleder über die Stadterhebungszeremonie. Dass ihre Planung heute noch in allen Einzelheiten nachvollzogen werden kann, ist das Verdienst des damaligen Kaplans Ulrich Wimmer, der sämtliche Dokumente rund um das Ereignis in drei Bänden gesammelt hat, die im Stadtarchiv liegen. In den Bänden reihen sich Protokolle des eigens gegründeten Festkomitees, Korrespondenzen mit Ämtern, Ehrengästen und Autoren der herauszugebenden Chronik, Gesuche und Bestellungen aneinander. Während schon die ersten Gratulationsschreiben anderer Gemeinden eingehen, bittet Finsterwalder am 12. Oktober - im Briefkopf noch die Marktgemeinde - den Tölzer Bürgermeister Anton Roth darum, die Patenschaft bei der Stadterhebung zu übernehmen. Der kommt gern und überreicht bei der Feier die Amtskette, die der Wolfratshauser Bürgermeister heute noch bei besonderen Anlässen trägt.

Jubiläum: Die Urkunde ist jetzt genau 60 Jahre alt.

Die Urkunde ist jetzt genau 60 Jahre alt.

(Foto: Stadtarchiv)

Beim Festakt schöpft die junge Stadt dann aus dem Vollen: Am Samstag, 2. Dezember, gibt es erst einen Weckruf der Bläservereinigung, dann allgemeines Glockenläuten, zwei Festgottesdienste und eine Kriegerehrung, bevor um 10.30 Uhr der Festakt mit 300 geladenen Gästen im Kino an der Bahnhofstraße stattfindet. Mehr passen nicht hinein. Später aber darf dann die ganze Bevölkerung am "Volkstumsabend" in der Turnhalle teilnehmen, den neben TSV, Sängerzunft und Loisachtalern auch die Heimatvertriebenen gestalten, die damals die Hälfte der Wolfratshauser Bevölkerung stellen. Laut einem Zeitungsbericht wird auch der Marsch "Hoch Wolfratshausen" uraufgeführt, den Anton Zinner, der Leiter der Bläservereinigung, eigens komponiert hatte. Das Stück sei heute verschollen, sagt Kalleder.

Beim "Sportfest" am Sonntag spielt dann der TSV 1860 München gegen den TSV Wolfratshausen. Etwa 3500 Zuschauer erleben, wie eine einmotorige Maschine der US-Luftwaffe aus dem Flug den Ball aufs Feld abwirft - und den ersten sportlichen Dämpfer für die junge Stadt: Die Löwen aus der Oberliga besiegen die Wölfe aus der Zweiten Amateurliga gnadenlos mit 7:1. "Alles in allem war es ein Lehrspiel, von dem man in Wolfratshausen noch einige Zeit sprechen wird", heißt es in einem Zeitungsartikel dazu.

8561 Einwohner

hatte Wolfratshausen am Ende des Jahres seiner Stadterhebung 1961. Heute hat sich diese Zahl auf 19 091 mehr als verdoppelt. Die Kommune an der Loisach, die vor mehr als 1000 Jahren das erste Mal urkundlich erwähnt wurde und 650 Jahre lang das Marktrecht hatte, hat so gesehen die segensreiche Entwicklung genommen, die ihr vor 60 Jahren von allen Gratulanten gewünscht wurde. Wolfratshausen hat seitdem aber auch an Bedeutung verloren: Kreisstadt blieb es nur ein Jahrzehnt, bis zur Gebietsreform 1972.

Die Dokumente zeigen auch, wie seniorenfreundlich Wolfratshausen schon damals war: Alle Bürger, die 75 oder älter sind, werden am Montag zum Mittagessen eingeladen, auf Listen erfasst und fünf Gaststätten zugeordnet. Dass die Namen nach Geschlechtern getrennt aufgeführt werden, hat einen Grund, der einiges über das damalige Rollenbild aussagt: das unterschiedliche Festmenü, das den Damen und Herren angeboten wird. Zwar gibt es für alle eine "gute Suppe" als Vor- und einen "Braten (Kalb oder Schwein)" als Hauptspeise. Frauen können als Getränk jedoch nur zwischen einem Viertelliter Bier und einem Fruchtsaft wählen. Für Männer gibt es hingegen entweder drei Glas Bier oder einen Schoppen Wein. Dafür bekommen lediglich die Frauen nach dem Essen Kaffee mit Torte gereicht - schwer vorstellbar heutzutage.

Auf der amüsanten Zeitreise durch die Dokumente lernt man auch, dass der Schulalltag vor 60 Jahren deutlich anstrengender war. Schließlich muss das Kultusministerium eigens ersucht werden, in Wolfratshausen am Samstag der Stadterhebung einen schulfreien Tag zu gewähren. Mit Erfolg. Am Montag darauf gibt es für die Schüler zur Lektion über die neue Bedeutung ihres Wohnorts auch eine Brotzeit. Die Bestellungen Hunderter Brezen und heißer Wiener, die bereits die "Stadt Wolfratshausen" im Briefkopf tragen, belegen, dass es damals nicht weniger als sieben Metzgereien allein in der Altstadt gab.

Dass Wolfratshausen ein würdiger Festakt gelang, zeigt die Berichterstattung. "Die tausendjährige Siedlung am Zusammenfluss zwischen Isar und Loisach ist die jüngste Stadt Bayerns", verkündet die SZ vom 4. Dezember 1961. "Fahnen, Wimpel und Girlanden in allen Straßen zeigten, dass die Wolfratshauser Bürgerschaft die neue Würde wohl zu schätzen weiß." Pathetisch hatte sich auch Staatssekretär Heinrich Junker ausgedrückt, den der damals verhinderte Goppel als Vertreter geschickt hatte: "Hier wird nicht irgendein kleines Dorf unter Umwegen zur Stadt gemacht, sondern der Schlussstein unter eine tausendjährige Geschichte gesetzt", sagte er bei der Überreichung der Urkunde an Finsterwalder - und lieferte ein Zitat, das auch Jahrzehnte später gelegentlich als Mantra im Stadtrat widerhallt: "Wir alle wissen, und das weiß man in ganz Bayern, dass Wolfratshausen keine schlafende, sondern eine schaffende Stadt ist."

Zu hören ist das auf der Schallplattenaufzeichnung eines Radiobeitrags vom Bayerischen Rundfunk, die Kalleder kürzlich im Stadtarchiv wiederentdeckt hat. Junker erklärt darin auch, dass die Voraussetzungen für eine Stadterhebung "gesetzlich gar nicht festgelegt" seien und im Ermessen der Behörde lägen. Aber: "Es wird nicht jeder Antrag genehmigt und wir haben eine Reihe von Ablehnungen."

Die Feierlichkeiten im Advent 1961 blieben vielen Wolfratshausern lange in Erinnerung und fanden ihren letzten Akt bei einer Stadtratssitzung am 17. Dezember, bei der Finsterwalder allen Beteiligten dankte. Durchsetzen konnte sich das Datum der Verleihung aber nicht. Dass der Stadtgeburtstag der Tag auf der Urkunde ist, zeigt ein Beschluss, den das Gremium damals fasste: Carl Christian Schlammerl, der am 9. Oktober 1961 geboren wurde, bekam als jüngster Bürger der Stadt ein Sparbuch mit 50 D-Mark geschenkt.

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