Vertriebene:Zweite Heimat Geretsried

Vertriebene: Viel Stoff zu lesen: 20 Transparente im Steiner Quartierstreff beleuchten die Geschichte der Deutschen aus Russland. Katharina II. hatte Menschen aus deutschen Kleinstaaten animiert, in den menschenleeren Steppen Russlands eine neue Existenz aufzubauen.

Viel Stoff zu lesen: 20 Transparente im Steiner Quartierstreff beleuchten die Geschichte der Deutschen aus Russland. Katharina II. hatte Menschen aus deutschen Kleinstaaten animiert, in den menschenleeren Steppen Russlands eine neue Existenz aufzubauen.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Die Ausstellung "Deutsche aus Russland. Geschichte und Gegenwart" im Steiner Quartierstreff führt zurück bis ins Jahr 1763, bietet aber auch ganz aktuelle Anknüpfungspunkte

Von Wolfgang Schäl, Geretsried

Geschichte, die sich in einem einzelnen Lebenslauf kristallisiert: Irina Pfaffenrodt war gerade 30 geworden, als es hieß: "Jetzt packen wir." Wir, das war eine Großfamilie mit 17 Kindern, die vor 22 Jahren den Beschluss fasste, ihrer russischen Heimat, der sibirischen Großstadt Omsk, den Rücken zu kehren. Packen, das bedeutete pro Person maximal 25 Kilo an Sachen, die mitgenommen werden durften auf dem Weg in ein neues, fremdes Land, dem man sich aus der Historie heraus doch innerlich so verbunden fühlte. Drei Kinder hatte Pfaffenrodt, ein Teil des zugestandenen Reisegepäcks bestand aus Winterbekleidung, es war kalt, "wir mussten uns ganz genau überlegen, was wir mitnehmen", schildert die Russlanddeutsche die Stunde null.

Eine in der Bundesrepublik lebende Verwandte hatte bei der Beschaffung der Papiere geholfen, jetzt also Abflug in Moskau, erste Stationen Hamm in Nordrhein-Westfalen, dann Nürnberg, Tutzing und schließlich Geretsried, Übergangswohnheim am Kochelseeweg. Drei Familien, elf Personen beengt auf 90 Quadratmetern Wohnfläche, ein halbes Jahr lang Sprachkurse in Weilheim. Den Beruf einer Telegrafistin, den Pfaffenroth bis dahin ausgeübt hatte, gab es im modernen Deutschland dank Internet nicht mehr. Das alles erzählt die geborene Usbekin lächelnd und ganz ohne larmoyanten Unterton, im Gegenteil. "Es war ein Paradiesgefühl, wow, wir hatten so viel Lust, was zu schaffen, was Neues zu machen." Sie sei jemand, der schnell Freunde findet, sagt die 52-Jährige über sich, "das Schlechte, das einem begegnet, vergesse ich schnell, für mich heißt es immer: aufstehen und weitermachen."

Aufstehen und weitermachen: Das war auch das Los der Zuwanderer aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks, die im behördlichen Sprachgebrauch bis 1992 Aussiedler, danach Spätaussiedler genannt und in der Bundesrepublik nicht überall mit offenen Armen empfangen wurden. Ihrer Geschichte widmet sich eine Wanderausstellung, die jetzt im Quartierstreff am Steiner Ring in Geretsried eröffnet wurde. Es ist eine Dokumentation über Tod und Vertreibung, über Deportation und Zwangsarbeit infolge des Zweiten Weltkriegs, als den deutschstämmigen Russen Kollaboration mit den Nationalsozialisten nachgesagt wurde. Es geht aber auch um Kultur und um Integration.

"Deutsche aus Russland. Geschichte und Gegenwart" heißt der Titel der Ausstellung, welche die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland organisiert hat. 20 großflächige Transparente führen zurück bis in die Zeit Katharinas II., die 1763 mit einem Dekret Menschen aus deutschen Kleinstaaten animiert hatte, sich auf den beschwerlichen Weg in Richtung Osten zu begeben und in den menschenleeren Steppen Russlands eine neue Existenz aufzubauen.

In seinem Grußwort spürte Bürgermeister Michael Müller der Frage nach, was Heimat denn eigentlich bedeute, und fand zu dem Schluss: "Daheim ist man dort, wo man verstanden wird." Deshalb könne es für einen Menschen auch eine zweite Heimat geben, das beste Beispiel dafür sei die Vertriebenenstadt Geretsried, in der jetzt schon die dritte Nachkriegsgeneration lebe. Vor dem Hintergrund von Unrecht und Menschenrechtsverletzungen damals wie heute sei es angebracht, mit dem Thema Vertriebene sensibel umzugehen. "Im Zeitalter der globalen Migration müssen wir offen sein für Menschen, die zu uns kommen, und den Blick auf Aussöhnung richten." Bei Jakob Fischer, dem Projektleiter der Ausstellung, fand dieser Appell viel Wohlwollen: "Sie müsste man bei jeder unserer Ausstellungen dabei haben", attestierte er Müller. Dass er selbst deutscher Kultur nahesteht, demonstrierte Fischer unter anderem mit gemütvollen Gesangsbeiträgen: Das von Franz Schubert vertonte Goethe-Gedicht "Heideröslein" hat der geborene Kasache ebenso textsicher im Repertoire wie Heinrich Heines Loreley-Seufzer "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" und das urdeutsche Wanderlied "Wohlauf in Gottes schöne Welt". Die Eröffnungsgäste im Quartierstreff "Wir sind Stein" ließen sich da nicht lang bitten, zumal die Texte auf Leinwand gebeamt wurden. Gemeinsames Volksliedersingen - mehr Integration geht fast nicht.

Um Integration schon bei der jungen Generation bemüht sich auch Irina Pfaffenroth, sie arbeitet in diesem Sinne im Verein "Wilde Rose" mit und organisiert den Austausch russischer und deutscher Jugendlicher. "Es war schon immer mein Traum, mit jungen Leuten zu arbeiten," schwärmt sie. Und überhaupt: Bei der Gelegenheit kommt sie auch immer wieder mal in ihre alte Heimat.

Bis 20. März, Quartierstreff, Steiner Ring 10; Führungen für Schulklassen und Vereine/Gruppen nach Absprache mit Jakob Fischer, Telefon 0171/4034329 oder j.fischer@lmdr.de

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