Natürlich könnte man jetzt einfach im Bergwald spazieren gehen, Herbstluft atmen und einen Urlaub planen. Oder ein wenig über die Arbeit schimpfen. Aber nicht mit Ursula Weber. „Dort hinten findet man noch Hallstatt-Gräber“, sagt sie und weist über den Golfplatz, „und da“, sie dreht sich ein Stück nordwärts, „da stand bis zum 18. Jahrhundert eine gewaltige Burganlage mit Brücken und Stallungen, sogar eine eigene Bäckerei hat es gegeben“. Sie ist ein wenig außer Atem, die Stufen sind steil. Aber ihre Begeisterung ist frisch und ansteckend. So viele Jahre sei sie durch Wolfratshausen gefahren und habe nichts davon gewusst, sagt sie. Und dann eine solche Überraschung! Also ist sie mehrmals durch den Bergwald gestreift, hat gelesen und an einer Führung des Historischen Vereins teilgenommen. „Das ist, als würde man durch ein Schlüsselloch in eine andere Zeit und Welt schauen.“
Ursula Weber ist Spaziergängerin und Geschichtenerzählerin, Journalistin, Religionspädagogin und Autorin. Eine Essenz ihrer Bergwald-Erkundungen findet sich in ihrem neuen Büchlein „Aussichtsreiche Sonntagsspaziergänge für alle Jahreszeiten“. Es ist das vierte Buch, das sie seit 2018 herausgebracht hat. Wie immer verbindet Weber darin Touren-Vorschläge im Oberland nicht nur mit Freizeit- und Einkehrtipps, sondern auch mit historischen Hinweisen, Sagen, Geschichten und Gedichten – eine Mischung, die offenkundig ankommt. Manche ältere Leute nutzten das Buch als Lektüre, sagt sie. „Sie tauchen ein und entdecken auf diese Weise neue Winkel ihrer vertrauten Heimat.“ Viele andere stecken es in die Jackentasche und lassen sich ein, zwei Stunden durch Neuland vor der Haustür lotsen.


Heute also durch den Bergwald. Still ist es dort nicht gerade. Von unten hallt Verkehrslärm herauf, wird irgendwann vom Rauschen der Loisach im Kastenmühlwehr überlagert. Das bringt Weber auf das Thema Flößerei. „Als Venedig seinen Bozener Markt Ende des 15. Jahrhunderts nach Mittenwald verlegt hat, kamen über die Isar Südfrüchte und Gewürze, Baumwolle, Samt und Seide in die Stadt“, erzählt sie. „Und schon im 17. Jahrhundert konnte man mit dem Floß regelmäßig nach München und weiter nach Wien reisen. Die Menschen damals waren gar nicht so eingeschränkt, wie man meinen könnte.“
Wie sah das Leben in und um Wolfratshausen aus? In der Eisenzeit? Im Mittelalter? Diese Fragen faszinieren sie. Wissbegier und Neugierde verbinden sich dabei mit einer starken Vorstellungskraft. Das zeigt sich spätestens auf dem einstigen Burggelände. Wo das ungeübte Auge nichts als zweieinhalb Hektar Wiesen, Wald und Wildwuchs ausmacht, erkennt sie Wälle und Verteidigungsanlagen, verweist auf eine einstige Brücke, einen möglichen Geheimgang. Einmal hält sie inne, bückt sich und zieht eine Tonscherbe aus einem Grasbüschel hervor.



Am höchsten Punkt der kleinen Runde erinnert ein Gedenkstein an die Burg, die 1734 in die Luft flog, als ein Blitz in den Pulverturm einschlug. Es ist ein Ort, der dazu einlädt, den Blick zu weiten. „Errungenschaften verschwinden“, sagt Weber, „man muss sie hegen und pflegen.“ Das gelte auch für unsere Zeit. „Zum Beispiel die Art, miteinander umzugehen.“ Von Heimat- und Sachkunde zur Philosophie ist es für sie ein kleinerer Sprung als über die Pfützen in dem von Rodungsarbeiten gezeichneten Areal.
Bodendenkmäler und andere Geheimnisse der Geschichte bilden einen Schwerpunkt in ihrem neuen Buch. Acht der 18 Ausflüge führen zu historischen Stätten. Der „Kircherlweg Irschenhausen“ etwa streift einen bronzezeitlichen Brandopferplatz, die Gaißacher Panoramarunde ein Grabhügelfeld. Dass sich die gebürtige Oberfränkin in der Region so gut auskennt, liegt unter anderem daran, dass sie häufig umgezogen ist. Mit 17 kam sie nach Bad Heilbrunn, dann ging es weiter nach Bad Tölz, Possenhofen, Augsburg, Ebersberg, Schäftlarn, Dietramszell, Oberbuchen und zuletzt Ellbach. „Und überall bin ich gerne spazieren gegangen.“ Sonst käme man wohl nicht auf eine Runde wie den „Kircherlweg“.


„Moment, das muss ich kurz fotografieren“, sagt sie und kniet sich neben einen toten Baum, der von Pilz-Kolonien überwuchert ist. Sie dreht das Handy, sucht nach der passenden Perspektive. Die Natur sei eine Lehrmeisterin der Vergänglichkeit, sagt sie. „Loslassen fällt uns schwer. Aber Veränderung ist Leben, Stillstand wäre Tod.“ Die Natur schenke Ruhe, weil sie zeige, dass man nichts festhalten könne. „Am besten, du lässt dich mittragen und gestaltest, wo du kannst.“ Ein solches Naturerlebnis habe nichts mit dem Sammeln von Gipfeln und Höhenmetern zu tun, einem „Konsumieren von Ausflügen“, wie es gerade in Mode sei.
Was genau meint sie damit? „Darf ich dazu eine Geschichte erzählen?“, fragt sie im Gegenzug und bleibt stehen. Sie sammelt sich einen Moment, fällt in ein warmes Bairisch und erzählt von einem Burschen, der sich zum Zwölfuhrläuten mit seiner Liebsten verabredet hat und, weil er so verliebt ist, schon um halb Zwölf am Treffpunkt ist. Vor lauter Erwartung sieht er nicht, wie blau der Himmel ist, und hört nicht, wie die Vögel zwitschern. An dieser Stelle dreht Weber lauschend den Kopf – und ja, da zwitschert es gerade wirklich im Herbstlaub.

Im Märchen erscheint nun ein Wichtel und schenkt dem Burschen einen Zauberknopf, mit dem er die Zeit vorstellen kann. Und so geht es im Knopfumdrehen vom Glockenläuten zur Hochzeitsnacht, und vom ersten, zweiten, dritten Kind zur Hofübergabe, und immer ist das Morgen interessanter als das Jetzt, und schon ist man am Totenbett angelangt – und der einstige Bursche erkennt, dass er sein Leben verpasst hat. Zum Glück lässt sich im Märchen der Knopf auch in die andere Richtung drehen. Der Bursche erwacht am Tag des Rendezvous pünktlich zum Glockenläuten. Aber plötzlich ist alles anders: Er hält seine Geliebte in den Armen. Und sieht den blauen Himmel. Und hört die Vögel zwitschern.
Das erzählt sie so schön, dass man den Burschen jetzt am liebsten auch in den Arm nehmen und beglückwünschen würde. „Das Leben ist immer jetzt“, sagt Weber. „Leben besteht darin, es zu spüren.“ Und eben dazu lade ein Ausflug in die Natur ein. Ob man sich dabei für ein Hügelgrab oder die alte Wolfratshauser Burg begeistern könne, sei zweitrangig. Sie schaut ins Herbstlaub, nimmt einen Atemzug: „Man kann auch einfach spazieren gehen.“
Ursula Weber: „Aussichtsreiche Sonntagsspaziergänge für alle Jahreszeiten“, Volk Verlag München, 2024, 16,90 Euro