Süddeutsche Zeitung

Ungewöhnliche Premiere:Narzisst ohne Spiegel

"Gestatten, ich bin ein Arschloch": Pablo Hagemeyers Buchvorstellung im "Hinterhalt" geht trotz Corona-Krise über die Bühne - eine Übertragung per Livestream macht es möglich

Von Arnold Zimprich, Geretsried

Es ist halb drei Uhr nachmittags. Zu dieser Zeit in die Kulturbühne "Hinterhalt" aufzubrechen, fühlt sich an wie um Mitternacht in einen Supermarkt zu fahren - ungewöhnlich. Doch was ist schon gewöhnlich in diesen Tagen. Auf der B 11 zwischen Königsdorf und Wolfratshausen ist wenig Verkehr, auf dem Radweg umso mehr. Die Herausforderung besteht darin, zwischen Kleinfamilien mit Kindern, Senioren mit Rollatoren und sportlich fahrenden, bunt gekleideten Mountainbikern die Corona-Ideallinie zu suchen, man will ja keine Vorschriften missachten.

Vor der Kulturbühne ist ungewohnt viel Platz. Auf dem sonst dicht beparkten Randstreifen der Leitenstraße hat der Wind leichtes Spiel und wirbelet kleine Staubfähnchen auf. Nun fehlt nur noch Morricones "Spiel mir das Lied vom Tod" und über die Straße wehendes Tumbleweed. Unten im Etablissement: gähnende Leere. Halt, stimmt nicht. Zwei Journalistenkollegen haben sich eingefunden, man kennt und grüßt sich freundlich, erörtert die bizarre Situation, lässt ausreichend Sicherheitsabstand. Wirtin Assunta Tammelleo weist darauf hin, dass Erfrischungsgetränke bereitstünden, und würdigt die Arbeit von Kameramann Thorsten Thane, Tonmann Hendrik Noeller sowie Lichtdesigner Günter Klügl. So etwas habe es in 29 Jahren "Hinterhalt" noch nicht gegeben, sagt sie, eine Lesung ohne Publikum.

"Gestatten, ich bin ein Arschloch", lautet der Titel des soeben bei Eden Books erschienenen Werks von Pablo Hagemeyer, der Untertitel: "Ein netter Narzisst und Psychiater erklärt, wie Sie Narzissten entlarven und ihnen Paroli bieten". Hagemeyer ist praktizierender Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, zudem wirkt er als Fachbuchautor und Supervisor, Drehbuchautor und Dozent für Persönlichkeitspsychologie. Der Buchtitel sei in seiner Familie nicht ganz unumstritten, verrät er.

"Keine Show, kein Publikum - die beste Pointe kommt bereits im Voraus!" Mit diesen Worten eröffnet der Autor - legerer Anzug, rotgerahmte Brille, wallendes Haar - seine Lesung. Gebe es doch nichts Beleidigerendes für Narzissten als die Nichtbeachtung. "Corona, was für eine kolossale Kränkung!"

Aber alle Dinge haben bekanntlich mindestens zwei Seiten. Als bekennender Narzisst freue er sich darüber, dass - Corona sei Dank - Menschen mit narzisstischen Tendenzen auf Instagram, Facebook und anderen Social-Media-Kanälen derzeit Konjunktur hätten: "Jetzt sind wir live!" Mit seinem Buch wolle er aufzeigen, wie man mit Narzissten umgeht. "Es ist für die geschrieben, die mit Narzissten zu tun haben."

Hagemeyers Buch ist teils Fiktion, teils Erlebnisbericht. Zum einen erzählt er die fiktive Geschichte von Tom und Tina, zum anderen übernehmen er selbst und seine Frau Carlotta die Hauptrollen. Die Geschichte beginnt damit, dass Tom in Hagemeyers Praxis kommt. Wie die meisten Narzissten hält er wenig davon, sich therapieren zu lassen: "Ich - Therapie?" Sein Leidensdruck ist jedoch groß. Er habe Tina einst durch konzentriertes "Lovebombing" erobert, erzählt Tom. Mittlerweile findet er seine Frau aber "ekelhaft" und wirft ihr vor, die "Zwillinge nicht im Griff zu haben".

Der Narzisst brauche ständig Nahrung, um seine psychischen Löcher zu stopfen, der anerkennende Blick von außen sei essenziell für seinen Selbstwert, erklärt der Fachmann. "Der Narzisst lernt früh, etwas Besonderes zu sein. Das äußere Selbst bekommt mehr und mehr, das innere Selbst wird begraben. Den Blick auf sich zu richten, muss der Narzisst indes erst lernen."

Wer sich nun fragt, wie denn nun am besten mit einem Narzissten umzugehen ist, für den hat Hagemeyer einen Tipp parat: "Loben Sie den Narzissten! Aber Vorsicht - Heuchelei erkennt der Narzisst sofort. Beschwichtigen sollten Sie einen Narzissten nie, das beleidigt seine Intelligenz!" Die Verlassenheit bleibe indes die größte Angst eines Narzissten, "da er immer eine Spiegelung braucht".

Die analoge Spiegelung hat dem bekennenden Narzissten Hagemeyer bei seinem Auftritt im Geltinger "Hinterhalt" zwar gefehlt, der Livestream wurde am Sonntagnachmittag aber mehr als 500 mal aufgerufen. Mittlerweile ist ein 48 Minuten langer Zusammenschnitt der Lesung auf Youtube abrufbar.

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Quelle:
SZ vom 07.04.2020
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