Städtepartnerschaften Wolfratshausens Partnerstadt im Kriegsalltag

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Der Bürgermeister der ukrainischen Stadt Brody Anatolij Belej schildert seinen Alltag.
Der Bürgermeister der ukrainischen Stadt Brody Anatolij Belej schildert seinen Alltag. (Foto: Andrij Gromjak/oh)

Bürgermeister Anatolij Belej schildert das Leben in Brody, wo Kriegsgefallene betrauert und gleichzeitig um die Zukunft gekämpft wird. Die ukrainische Stadt hofft auf mehr Unterstützung und Kontakt aus ihrer bayerischen Partnerkommune.

Von Arnold Zimprich, Wolfratshausen / Brody

Anatolij Belej hat viel zu tun. Nicht seit Wochen, nicht seit Monaten, sondern seit Jahren. Dass ein Bürgermeister mit allem Möglichen beschäftigt ist, ist nichts Besonderes, doch Anatolij Belej, 62, muss sich um viel mehr kümmern als um die Belange von Bürgern, um Stadtratssitzungen und das Tagesgeschäft. Der inzwischen knapp drei Jahre währende russische Angriffskrieg auf die Ukraine stellt Belej, Rathaushauschef der ukrainischen Stadt Brody und Partnerkommune von Wolfratshausen, vor fast unlösbare Herausforderungen – jeden Tag, jede Stunde.

„Alles bleibt in Kyiv“, antwortet Belej lapidar auf die Frage, ob die Kommune finanziell unterstützt wird. Wenn es um Großprojekte geht, ist die Stadt Brody mit ihren rund 23 000 Einwohnern laut Angaben von Belej auf sich alleine gestellt. Der ukrainische Staat müsse das Geld zusammenhalten, der Krieg führe zu Geldmangel allerorten. Kam zu Beginn des Krieges noch mehr Unterstützung vonseiten der Regierung, zum Beispiel was den Bau von Unterkünften für Binnenflüchtlinge angeht, telefoniert er nun „jeden und alles ab“, wie er sagt, um die Geldtöpfe zu füllen.

So müsste die Trinkwasserversorgung in der etwa 90 Kilometer nordöstlich von Lwiw gelegenen Stadt dringend saniert werden. „Da wurde in 50 Jahren nichts gemacht“. Deutsche Techniker hätten sich die marode Infrastruktur angeschaut, geschehen sei anschließend jedoch nichts. „Unsere polnische Partnerstadt Garwolin ist eingesprungen“. Ein Grund für die Hilfe aus Polen könnte die räumliche Nähe sein - Garwolin ist rund 375 Straßenkilometer, Wolfratshausen je nach Strecke gut 1300 Kilometer entfernt.

Auch in der Stadt Brody finden sich mehr und mehr Schautafeln, an denen Kriegsgefallenen gedacht wird.
Auch in der Stadt Brody finden sich mehr und mehr Schautafeln, an denen Kriegsgefallenen gedacht wird. (Foto: Arnold Zimprich/oh)

Die Wasserleitungen und -pumpen sind nur eines der Millionenprojekte, die in Brody überfällig sind, aufgrund überstrapazierter Budgets jedoch auf die lange Bank geschoben werden müssen. Die Infrastruktur ist das eine, die Kriegsfolgen das andere. Im Stadtzentrum befindet sich - wie in allen ukrainischen Städten - eine wachsende Anzahl an Schautafeln, auf denen der Kriegsgefallenen gedacht wird, umrahmt von einem Meer an ukrainischen Flaggen, Kerzen, Plüschtieren. Brody mag im westlichen, vermeintlich ruhigeren Teil der Ukraine liegen, doch in Sicherheit wiegen können sich die Bürger nicht. Auch, weil ein Militärflugplatz rund fünf Kilometer Luftlinie vom Stadtzentrum entfernt liegt. „Sechs Angriffe gab es seit Beginn des Krieges“, sagt Belej. Einer davon mit einer Ch-101, das ist ein Marschflugkörper mit Tarnkappentechnik. „Ich danke Gott, dass wir hier in Brody bisher keine Todesopfer durch Luftangriffe zu beklagen hatten“, sagt der Rathauschef.

Es klopft, ein junger Mann kommt herein, der Bürgermeister umarmt ihn. „Der kommt von der Front und ist kurz hier, um Material zu holen“. Man werde sich später noch einmal sehen, vielleicht bei der Zeremonie, die heute noch für einen vor ein paar Tagen gefallenen Sohn der Stadt abgehalten wird. „Eigentlich ist das geheim“, sagt Belej, nennt dann aber doch von sich aus Zahlen. „Wir haben bereits mehr als 200 getötete Soldaten zu beklagen. Mehr als 70 werden vermisst.“ Man sieht ihm an, wie sehr das schmerzt.

Wie lange wird das noch so weitergehen? Brody beherbergt etwa 3000 Binnenflüchtlinge. Um die Versorgung sicherzustellen, ist Brody auf Spenden und Menschen wie Andrij Gromjak angewiesen. Der studierte Jurist und Busunternehmer führt nach dem Termin mit dem Bürgermeister durch seine ehemalige Werkstatt, in der die Busse gewartet wurden - jetzt befindet sich hier ein Lager für humanitäre Hilfsmittel. Gromjak kooperiert mit dem Verein Osteuropahilfe aus den Landkreisen Bad Tölz-Wolfratshausen, München und Starnberg, und nennt deren Vorsitzende Maria Reitinger eine „Heilige“, soviel habe sie schon auf die Beine gestellt, gesammelt, verschickt und koordiniert.

Der Jurist und Busunternehmer Andrij Gromjak in einem provisorischen Lager.
Der Jurist und Busunternehmer Andrij Gromjak in einem provisorischen Lager. (Foto: Arnold Zimprich/oh)

Gromjak listet auf, woran es aktuell am meisten mangelt: Windeln, auslaufsichere Betteinlagen, Schlafsäcke und Isolationsbekleidung. Das sind lediglich die Dinge, die ihm auf Anhieb einfallen. Er ist zudem aktiv auf der Suche nach Pick-Ups für die Armee, zum Termin im Rathaus ist er mit einem Mitsubishi aus England gekommen. Täglich werden an der Front Fahrzeuge zerstört. „Der hat gut 3000 Pfund gekostet, plus 900 Pfund für den Transfer“.

Anatolij Belej ist ein stolzer Mann, zum gemeinsamen Abschiedsfoto drückt er die Brust raus. Man kann sich vorstellen, dass er nicht immer der Bittsteller sein möchte, erst recht in der jetzigen Lage, wo schon so viele Kriegstage ins Land gegangen sind. „Die Städtepartnerschaft mit Wolfratshausen gibt es schon lange, wir würden uns aber mehr Kooperationen wünschen“. Brody hat ein lebendiges Vereinsleben, zum Beispiel einen sehr erfolgreichen Karateverein, Musikvereine, Tanzgruppen, Fußballvereine. An- und Verknüpfungspunkte gäbe es viele. „Wir würden uns freuen, wenn ab und zu mal jemand anklopft“.

Einen Wunsch hat Bürgermeister Belej noch zum Abschied. „Die ganze Zivilisation sollte sich an einen Tisch setzen und diesen Krieg stoppen“, sagt er mit Nachdruck. Das Kräfteverhältnis sei schließlich ungleich: „Die Ukraine hat nicht einmal 40 Millionen, Russland 145 Millionen Einwohner“. Wenn sich nicht alle zusammenrauften, so der Bürgermeister, „weiß ich nicht, wie das zu Ende geht“.

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