Tetiana Vysokolian war die ganze Nacht wach, als es vorigen Freitag zum denkwürdigen Streit zwischen US-Präsident Donald Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij im Oval Office kam. Immer wieder sah sie sich Videos dieser Szene an, auf verschiedenen Kanälen, bis zum Morgen. „Ich war schockiert“, sagt die Sängerin und Musiklehrerin aus Kiew, die 2022 vor dem Angriffskrieg Russlands flüchtete und in Kochel am See lebt. Das geht Laryssa Stadnyk nicht anders. Ohne die Hilfe der USA habe sie nun „große Angst, dass die Ukraine verliert“, sagt die 53 Jahre alte Kardiologin, die mit ihrer Familie vor knapp drei Jahren in Lenggries untergekommen ist.
Auch Iryna Sukhomlynova, die in Geretsried lebt, hat sich den Eklat im Internet angeschaut. Die 43-Jährige ist Psychologin, hat in Kiew studiert. Das aus dem Ruder gelaufene Gespräch im Oval Office ist für sie ein Fall von „Gaslighting“ - eine psychische Manipulation, mit der das Opfer, sprich: Selenskij, gezielt verunsichert und herabgewürdigt wurde. Aber sie übt auch Kritik an ihrem eigenen Präsidenten. Der habe in dem Gespräch mit Trump und US-Vizepräsident J.D. Vance die Kontrolle verloren und „seine Schwäche gezeigt“. Denn ihn schmerze alles, was in seinem Land passiere, sagt Sukhomlynova. Da gehe es ihm wie allen Ukrainern. „Sie sind überemotional, wenn es um die Ukraine geht.“

Laryssa Stadnyk hat sich geärgert, als sie Trump und Vance zusah. „Die Leute bei uns sterben, und Trump und seine Leute benehmen sich so“, grollt sie. Den Vorwurf mangelnder Dankbarkeit an Selenskyj weist sie zurück. Der ukrainische Präsident habe immer wieder und überall Danke gesagt, da gebe es „nichts, wofür er sich entschuldigen muss“. Ähnlich äußert sich Tetiana Vysokolian. Zwar habe sich Selenskij im Oval Office nicht gerade diplomatisch verhalten und auch keine Hilfe von seinen Beratern bekommen, aber entschuldigen müsse er sich nicht - so unschön, wie mit ihm umgegangen worden sei.
„Trump hat nicht zugehört, dass in der Ukraine Leute sterben“
In der Heimat der drei geflüchteten Frauen geht das Sterben derweil weiter. Seit die USA die Gespräche mit Russland in Saudi-Arabien wieder aufgenommen haben, sei die Stadt Charkiw „viel stärker bombardiert“ worden, sagt Stadnyk. Die Kardiologin und Funktionsdiagnostikerin arbeitete dort in einem Krankenhaus. Das Nebengebäude mit der Lungenabteilung sei zerstört worden, erzählt sie, ebenso eine Zahnklinik, in der sie ihren Sohn früher zum Arzt brachte. Neben dem Hochhaus, in dem sie wohnte, lägen Geschäfte in Schutt und Asche. Viele Leute, auch Kinder, seien bei den Angriffen ums Leben gekommen. „Trump hat nicht zugehört, dass in der Ukraine Leute sterben“, ärgert sich Stadnyk. „Die Ukraine hat den Krieg nicht angefangen.“
Dazu wäre es vermutlich nicht gekommen, besäße das Land noch Atomwaffen. Mit dem Budapester Memorandum im Jahr 1994 gab die Ukraine ihre Nuklearwaffen aus Sowjetzeiten jedoch ab, im Gegenzug erhielt sie damals das Versprechen ihrer Souveränität und territorialer Integrität. Von den USA, auch von Großbritannien. Russland brach den Vertrag ebenso wie das Minsker Abkommen 2015 über einen Waffenstillstand in der Ostukraine. „Die Ukraine hat kein Vertrauen mehr in solche Dokumente“, sagt Sukhomlynova. Eben deshalb habe Selenskij im Weißen Haus auch eine Sicherheitsgarantie gefordert. „Kein Ukrainer will den Krieg verlieren, aber die USA stellt die Ukraine in eine Position, aus der es keinen Ausweg gibt.“

Und Europa? Die Hoffnung von Tetiana Vysokolian richtet sich nun auf Deutschland, auf Frankreich, auf England. „Europa ist viel größer als Amerika“, sagt sie. „Ich hoffe, dass sie die Ukraine nicht im Stich lassen.“ Schon jetzt bekomme man von dort viel Unterstützung. Laryssa Stadnyk formuliert dies noch deutlicher: „Die Ukraine wird ohne europäische Hilfe nicht überleben.“ Auf die Frage nach Europa stößt Iryna Sukhomlynova hingegen einen kleinen Seufzer aus. Nein, sagt sie dann, sie habe keine große Hoffnung auf Europa. Es müsse schon ein Wunder geschehen und sich in den Köpfen der europäischen Führer etwas ändern, damit sie „eine harte Position gegen Russland“ zeigen, meint die Psychologin.
„Jeder will, dass schnell der Frieden kommt“, betont Laryssa Stadnyk. Aber nicht um jeden Preis. Sollte es zu Verhandlungen kommen und Russland die besetzten Gebiete in der Ostukraine behalten dürfen, dann gehe Wladimir Putin weiter. Ein Wirtschaftsabkommen mit den USA über Mineralien und andere Rohstoffe bietet für Tetiana Vysokolian jedenfalls keine Sicherheit für die Ukraine: „Was J.D. Vance gesagt hat, ist keine Garantie für Frieden.“ Nur Europa mithilfe der USA könnten „das Blutbad stoppen“. Ansonsten werde sich der Krieg weiter nach Europa ausdehnen.
Waffen und Hilfslieferungen aus Europa würden„ der Ukraine zeigen, dass sie nicht alleine ist“
Für Iryna Sukhomlynova dürfte das erst einmal nicht geschehen. Putin sei schließlich „in die Ukraine gegangen, um seine Ambitionen und seine psychopathischen Wünsche zu befriedigen“, meint sie. Er hätte ja auch die kleineren baltischen Länder oder Finnland überfallen können. „Er schafft nicht Europa, dazu hat er nicht genug Kraft.“ Würde die EU doch für die USA einspringen und der Ukraine helfen, gäbe es dort eine „neue Welle des Widerstandswillens“, meint die Psychologin. Egal, ob Waffen oder Hilfslieferungen, „es würde der Ukraine zeigen, dass sie nicht alleine ist“. Ein solches Zeichen wäre Sukhomlynova zufolge wichtig. Denn die Leute seien nach drei Jahren Krieg müde, sie hätten ihre innere Stärke verloren.

Einen Friedensschluss ohne die Rückgabe der besetzten Gebiete lehnt Sukhomlynova allerdings ab. „Russland muss raus aus diesen Territorien“, sagt sie. Was die künftige Sicherheitsarchitektur für die Ukraine angeht, äußert sie Zweifel, ob sie mit europäischen Truppenkontingenten errichtet werden kann. Wenn ein deutscher Soldat sterbe, könne Putin behaupten, dies hätten die Ukrainer getan, meint sie. Atomwaffen? Ja, aber „das ist eine schlechte Sache, so muss es nicht sein“. Es sei die nächste Aufgabe der Politik, einen wirksamen Sicherheitsmechanismus zu finden. „Wir brauchen neue Ideen“. Am besten, so die Psychologin: „Trump muss verlangen, dass Putin verschwindet - nicht Selenskij.“
Wo sie ihre Zukunft nach Kriegsende sieht, hat Tetiana Vysokolian noch nicht entschieden. „50, 50“, meint sie. Auf einmal wechselt sie die Sprache und sagt in fehlerfreiem Deutsch: „Mein großer Traum ist es, eine eigene Tanz- und Musikschule zu eröffnen.“ Nicht nur in Kochel, wo es der Kiewerin manchmal „zu ruhig“ ist, sondern an mehreren Standorten, etwa am Stadtrand von München. Dort sollen erst Kinder, später auch Erwachsene ukrainische und deutsche Tänze und Lieder lernen, auch solche aus den Herkunftsländern von Migranten. Die Pläne von Iryna Sukhomlynova sehen ganz anders aus. Deutschland sei „ein wunderbares Land für Deutsche“, meint sie: „Aber Leute, die in der Ukraine ihr Leben aufgebaut haben, tauschen es nicht für ein gutes Leben in einem anderen Land.“
Laryssa Stadnyk hat derzeit andere Sorgen. Sie würde gerne in einem Krankenhaus oder in einer Arztpraxis arbeiten, hat aber bisher keine Stelle gefunden. „Das ist schwer“, erzählt sie. Und dann kam auch noch eine Nachricht aus Charkiw, wo sie eine Wohnung im 13. Stock eines Hauses besitzt. Bei einem Angriff der Russen ist dort ein Kanalrohr durch die starke Vibration der Raketeneinschläge gebrochen. Wegen der Reparatur habe sie mit den Nachbarn telefoniert, erzählt sie. Aber es sei schwer, jetzt Fachkräfte zu finden. „Die Männer sind im Krieg.“