Tradition im Schnee:Fliegen mit der Holzklasse

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Beim Schnabler-Rennen in Gaißach stürzen sich mehr als 100 Waghalsige auf traditionellen Holzschlitten die steile Piste hinab. Unter optimalen Wetterbedingungen bejubeln die Zuschauer ihre spektakulären Sprünge über die Schanze - und die ein oder andere Bruchlandung.

Von Benjamin Emonts, Gaißach

Ein Raunen geht durchs Publikum, als die "Fuizn-Hexn" mit Karacho aus dem Wald rauschen. Ihre Holzklasse gerät ins Schlingern. Sie hebt ab. Nach einem riesigen Satz kommt sie wieder auf und gräbt sich in den Schnee, dass es nur so spritzt. Die Hexen wirbeln durch die Luft, sie landen unsanft. Das Raunen wird ein lang gezogenes "Ooooh". Aber alles gut. Lisa und Kathi schütteln sich kurz und stehen auf. Jubel. Sie fallen sich in die Arme und purzeln gemeinsam den Berg runter.

Es ist der ganz normale Wahnsinn beim traditionellen Schnabler-Rennen in Gaißach. Bereits seit 1928 stürzen sich Wagemutige mit den traditionellen Schlitten - Schnabler genannt - den fast 1000 Meter hohen Lehener Berg hinab. Die 1,5 Kilometer lange Rennstrecke versuchen sie, so schnell wie möglich hinter sich zu lassen, ohne mechanische Hilfen wie Bremsen oder Steuer zu benutzen. Von eisigen Steilhängen geht es nahtlos über in enge Kurven. Fast unten angekommen, geht es hinaus aus einem Wald auf eine große Naturschanze, welche die Schlitten geradezu ins Tal katapultiert. Tausende Sensationslustige warten hier erwartungsvoll auf sie.

Kathi Ostheimer und Lisa Pauli, die beiden "Fuizn-Hexn" und einzigen Schnabler-Fahrerinnen an diesem Nachmittag, werden mit am lautesten von den etwa 5000 Zuschauern bejubelt. Ihr vierzehn Meter weiter Sprung war nicht weniger spektakulär als die der Männer, die das Rennen viele Jahrzehnte für sich allein beansprucht hatten. Nach ihrem grandiosen Satz werden Kathi und Lisa im Zielraum nun von ihren stolzen Freundinnen und Eltern in Empfang genommen. Gegen das Adrenalin, das sie offensichtlich im Blut haben, gibt es eine frische Halbe Bier und einen Feigling zum Nachspülen. Während sie trinken, versucht Lisas Mutter Uschi aber erst einmal klar zu kommen. "Schrecklich. Meine Nerven waren am Ende", stammelt sie.

"Wir hatten die Hosen voll", bestätigen schließlich Lisa und Kathi ihre Skrupel. Ihre Anspannung sei schon den ganzen Tag groß gewesen und zum Start hin immer weiter gewachsen. Auf der Strecke aber schalte man sein Gehirn komplett aus, beteuern die beiden. Das Gefühl nach der Landung? "Erst schaut man nach der anderen, ob sie auch aufsteht. Aber dann: Geil!"

Was die Urheber des inzwischen überregional bekannten Wettkampfs fühlten, ist hingegen nicht überliefert. Bekannt ist nur, dass das Schnabler-Rennen auf eine Wette aus dem Jahr 1928 zurückgeht. Einige junge Burschen, die Heu und Holz auf ihren Hornschlitten transportierten, setzten darauf, wer von ihnen auf seinem Schnabler am schnellsten den Hohlweg von der 1124 Meter hohen Schwaigeralm hinunter ins Tal schaffen würde. Aus der Wette entwickelte sich ein immer wiederkehrender Wettkampf, ein Brauchtum. Ziel ist es, die Strecke möglichst schnell zurückzulegen und am Ende einen möglichst großen Sprung ins Tal hinzulegen. Auf die Gewinner warten am Ende Pokale, die sie hernach mit dem ein oder anderen alkoholischen Getränk auffüllen dürfen. Vor und während des Rennens ist Alkohol für die Fahrer aber strengstens verboten. Nebenbei: Der bislang weiteste Sprung ging im Jahr 1981 über sagenhafte 25 Meter.

So eine Tradition braucht freilich auch feste Regeln. Auf Einzelschlitten dürfen seit jeher nur Gaißacher sitzen, auf Doppelsitzern muss zumindest der vordere Fahrer ein Einheimischer sein. Das soll auch so bleiben, damit das Rennen nicht noch größer wird. Auch so gehen am Sonntag immerhin 4o Schnabler und 24 Schlitten an den Start. Letztere werden überwiegend von Kindern und Jugendlichen gefahren - von der 15-Jährigen Maria Mayer beispielsweise mit Skibrille und Einhorn.

Die Atmosphäre im Zielhang erinnert an eine Mischung aus Hüttengaudi und Skiweltcup. Weil das Rennen immer um die Faschingszeit stattfindet, ist es Brauch geworden, dass Zuschauer und Fahrer sich bunt verkleiden. Im Publikum sind Giraffen, Piraten und Sponge Bobs. Ein Pärchen Nonnen donnert genauso den Berg hinunter wie zwei Bananen oder ein gelb-schwarz gestreifter Häftling, der Biene Maja zum Verwechseln ähnlich sieht.

Aus den Lautsprechern am Streckenrand röhren so passende Schlager wie "Der Berg ruft", "Hände zum Himmel" oder "20 Zentimeter". Der bestens aufgelegte Stadionsprecher Anton Kell schickt Grüße rüber zum Tegernsee zu Uli Hoeneß und erklärt ihm, dass leider Sechzig und nicht der FC Bayern München seine große Liebe sei. Mit einer Spur Sarkasmus begrüßt er einen Bus mit "Schneehasen" aus der bis vor kurzem noch völlig eingeschneiten Jachenau, über die bundesweit berichtet wurde. "Schön, dass ihr wieder in der Zivilisation seid", ruft er. Oder er gibt den Hinweis: "Bitte keinen Alkohol für Kinder unter zwölf Jahren ausschenken."

Was für die Bewohner der Jachenau vermutlich zeitweise lästig war, ist für die Gaißacher in diesem Jahr ein Segen. Im Schnitt jedes zweite Jahr muss das Schlittenrennen wegen der Wetterverhältnisse nämlich abgesagt werden. In diesem Jahr aber reicht der Schnee locker aus, um das beliebte Rennen auszutragen. Beim Startschuss scheint die Sonne so warm auf den Berg, das es überall taut und tropft. Die steile Piste wurde dadurch weicher. Sämtliche Fahrer im Zielhang sprechen nach ihrem Rennen von "optimalen Bedingungen."

Denn wenn der Hang stark vereist ist, wächst die Verletzungsgefahr. Knochenbrüche, Prellungen, Verrenkungen und Hämatome gehören zur Historie des Gaißacher Rennens genauso dazu wie der Schnee oder der Glühwein. Die beiden Schnabler fahrenden Bananen, Sepp Bauer und Stefan Reiser, sehen nach ihrer eher unsanften Landung im Zielhang dementsprechend ein wenig ramponiert aus. Auf Bairisch würde man sagen: Es hat sie zerbröselt. Reiser, der hinten auf dem Schlitten saß, blutet leicht an der Nase und hat Kratzer auf seiner Wange, weil er mit dem Gesicht frontal im Schnee gelandet ist; der Bauer Sepp, ein professioneller Gleitschirmtester, klagt über leichte Knieschmerzen. Auszumachen scheint ihnen das nichts. "Was tut man nicht alles", sagt Banane Reiser und lacht.

© SZ vom 28.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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