Süddeutsche Zeitung

Tölzer Prügel:Neo-Egerländer Voralpenlook

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Das neue Geretsrieder Stadtzentrum sollte vor allem eins werden: zeitgemäß, modern, urban. Das Rathaus samt Ambiente lässt davon wenig erkennen

Kolumne von Felicitas Amler

Irgendwas ist da schiefgelaufen. Seit Jahr und Tag wird in Geretsried ein neues, urbanes Stadtzentrum geplant. Markig angepriesen auf der "Neue Mitte"-Website der Stadt: "Moderne Architektur", "spannende Kulturmeile", "das Geretsried von Morgen", "neue Identität", "zeitgemäßes Gesicht". Und nun dies: Dreißigerjahre-Rathaus mit Sechzigerjahre-Kunst vor der Haustür.

Das Rathaus ist meist das bestimmende Gebäude einer Stadt, die Visitenkarte. Die Stadt zeigt sich so, wie sie gesehen werden möchte: attraktiv und selbstbewusst, zurückhaltend und bescheiden, modern und stolz. Nicht zufällig prägen die Abbildungen von Rathäusern fast immer auch die Ansichtskarten ihrer Orte.

Das Gesicht einer Stadt also. In Geretsried ist es zudem das erste Gebäude, das Besuchern auf dem Weg zum Zentrum ins Auge fällt. Wobei ... ins Auge plumpst erst einmal, farblich schrill und massiv überbeschildert, der enorme Schlund der Tiefgarageneinfahrt. Potthässlich, aber unverkennbar "zeitgemäß". Und dann Rolle rückwärts - das Rathaus samt Ambiente. Die Skulpturengruppe der Neuen Mitte ist ein Werk des Bildhauers Wilhelm Srb-Schlossbauer. Drei überlebensgroße, stämmige, wenn auch behände Wasserträgerinnen, im Volksmund - bewusste Ironie oder nicht? - "Grazien" genannt. Bei vielen sind die drei äußerst beliebt, was womöglich damit zu tun hat, dass man auf den ersten Blick erkennt, worum es sich bei dieser Kunst handelt. Leider. An einer anderen Stelle des Platzes, einer jener durchaus vorhandenen, modern gestalteten Flächen, hätte sich das gestrige Werk in einen effektvollen Kontrast zum Heute begeben können. Aber ausgerechnet vor dem optisch verlogenen Rathaus!

Dies ist in Geretsried eines der wenigen Denkmale. In seinem heutigen Auftritt ist es die Camouflage einer Camouflage. Das 1939/40 errichtete Haus im Heimatstil war eine Schaltstelle des NS-Apparats - das Verwaltungsgebäude eines hochproduktiven Rüstungsbetriebs der Nazis. Deswegen trug es Tarnfarbe. Die Nachkriegszeit wiederum kaschierte den ursprünglichen Zweck mit hübscheren Tarnfarben und verpasste ihm weiß-blaue Fensterläden. Gesamtwirkung? Betulich, kreuzbrav, bieder. Das Einzige, was diese Visitenkarte hätte aufpeppen können, wäre ein Knaller von Kunstwerk gewesen. Ein vitaler Gegensatz, ein eigenwilliger Kontrapunkt, künstlerisch up to date. Ein Ausweis der Moderne eben. Aber statt in der angepriesenen "neuen Identität" zeigt sich Geretsried mit diesen Grazien vor diesem Rathaus im Neo-Egerländer Voralpenlook.

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Quelle:
SZ vom 19.10.2020
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