Das uralte Faust-Motiv zählt nach wie vor zu den großen Themen der deutschen Literatur. Ihm war im Rahmen des zu Ende gehenden, anspruchsvollen Thomas-Mann-Festivals in Bad Tölz ein eigener Vortrag gewidmet, genauer gesagt war es ein rhetorisches Feuerwerk, eine kenntnisreiche, mehr als einstündige, begeisternde Vorlesung im Saal des Tölzer Stadtmuseums. Referent war der betagte, dessen ungeachtet aber ungemein präsente Albert von Schirnding. Der bekannte Lyriker, Erzähler und Essayist also, der im Schloss Harmating in Egling lebt, der preisgekrönte Germanist, der Altphilologe, der Feuilleton-Kritiker, der Pädagoge. Dem großen Roman "Doktor Faustus", der zu Thomas Manns Zeit höchst umstritten war, näherte er sich auf indirektem Weg. Denn zwei Jahre nach Fertigstellung des eigentlichen Faustus-Stoffs verfasste Thomas Mann noch eine autobiographische "Bekenntnisschrift", der Schirnding eine eigene literarische Qualität zuerkannte. Der Titel dieses im Jahr 1949 erschienenen Werks lautet dementsprechend: "Die Entstehung des Doktor Faustus, Roman eines Romans".
Es ist Schirnding zufolge eine Art autobiografischer Rechenschafts- und Werkstattbericht entstanden, in dem Mann die physischen und seelischen Hürden beschreibt, die Gemütszustände, die mit der Niederschrift des großen Faustus-Werks verbunden waren und sich zu einer eigenen "zweiten Dichtung" mit ganz spezifischer Qualität komprimiert haben. Denn Thomas Mann verknüpft die Entstehung des Faust-Stoffes, in dem es um einen Pakt mit dem Teufel geht, mit dem Verhängnis der deutschen Geschichte, aber auch mit vielfachen kulturellen, Bezügen und Ausschweifungen, insbesondere mit Musiktheorien.
Denn im "Doktor Faustus" geht es ja um nichts weniger als den Werdegang des ruhmsüchtigen "Tonsetzers" Adrian Leverkühn, der sich auf einen Pakt mit dem Satan einlässt und als berühmter Komponist mit dem unmenschlichen Verbot zu lieben bezahlt. Ebenso wie im Fall Nietzsche endet Leverkühns Tragödie in geistiger Umnachtung. Thomas Mann sprach in diesem Kontext von einer Verflechtung der beiden Schicksale.
Das Konzept der "Bekenntnisschrift", des "Romans im Roman," bietet neben historischen Bezügen aber auch viel Raum für eine Auseinandersetzung mit Philosophen und Musiktheoretikern wie Theodor Adorno, Max Horkheimer, Friedrich Nietzsche und Arnold Schönberg, dem Begründer der Zwölftonmusik, der auch als literarische Gestalt bei Thomas Mann auftaucht. Vor allem aber ging es um die Beschreibung der Lebensumstände, unter denen Manns Faust-Roman entstand, um politische Hintergründe in einer bedrohten Welt und um innere Gemütszustände in verschiedensten Lebenssituationen.
"Finden statt Erfinden": Von der Erzähltechnik der Montage
Schirnding beschreibt dabei eine in der "Bekenntnisschrift" entwickelte Erzähltechnik der Montage, in der Thomas Mann einzelne Textfragmente in Tagebuchform verwertet und es dabei mit der Urheberschaft alles andere als genau genommen habe, wie sich anhand von konkreten Textbeispielen unschwer belegen ließ; durchaus zur Heiterkeit des Publikums im vollbesetzten Saal des Stadtmuseums. Mit der Formel "Finden statt Erfinden" habe Thomas Mann dieses literarische Prozedere gerechtfertigt, das eine kunstvolle Mixtur von Mitteilung, Andeutung und Verschweigen und damit eine eigene, eigenwillige Stilform darstellt. Anstößig fand Thomas Mann selbst dies offenkundig nicht. Schirnding zufolge ist dabei unter der Hand jedenfalls ein eigener Roman, eine "Kontraststory" zum Faustus-Roman entstanden.
Die Gäste des lebendigen Vortrags waren am Ende voll des Lobes, der Applaus war laut , anhaltend und herzlich.