Teil 8:Zufluchtsort in der Diaspora

Jost Knauss war einst das einzige evangelische Schulkind in Kochel. Der kleinen Jugendstil-Kirche, für die Protestanten im Ort ein wichtiger Treffpunkt, ist er seit 78 Jahren eng verbunden. Früher hat er dort die Glocken geläutet, seine Frau hielt auch Predigten in dem Bau

Von Sabine Näher, Kochel am See

1935 in Hessen geboren kam Jost Knauss als Vierjähriger mit der Familie nach Bayern und bezog das Haus seines Großvaters mütterlicherseits in Kochel. Hier wuchsen er und seine beiden Geschwister auf. Und in diesem Haus lebt der ehemalige Professor für Wasserbau an der Technischen Universität München seither. Heute kaum vorstellbar, fiel die evangelische Familie damals total aus dem katholisch geprägten Rahmen. Als er am 1. September 1942 eingeschult wird, ist Jost das einzige evangelische Schulkind in Kochel. "Meine Klassenkameraden zogen mich auf, indem sie fragten: 'Wos bist?' Auf meine Antwort 'Evangelisch!' hieß es dann immer 'Nix bist, a Protestant bist!'", erzählt Knauss von der heute nur schwer nachvollziehbaren Ausgrenzung.

Dass sich die wenigen Protestanten in der sprichwörtlichen Diaspora Oberbayerns umso enger zusammen schlossen, verwundert also nicht. Dass die kleine, 1913/14 erbaute evangelische Kirche ein wichtiger Zufluchtspunkt war, ebenso wenig. Hier traf man sich nicht nur zum Gottesdienst, sondern auch zum geistig-kulturellen Austausch darüber hinaus.

Von 1890 bis 1914 hatte sich die Einwohnerzahl Kochels von 725 auf 1450 verdoppelt. Grund des enormen Zuwachses war die Eröffnung der neuen Trasse der Kesselbergstraße sowie die Verlängerung der Bahnlinie von München bis Kochel, die die bisher abgeschiedene Region verkehrsmäßig erschloss. Viele der daraufhin entstehenden neuen Geschäfts- und Wohnhäuser wurden im gerade aufkommenden Jugendstil errichtet, so auch die kleine evangelische Kirche An der Leiten. Der 1903 von 25 evangelischen Christen gegründete "Kapellen-Bauverein" hatte zehn Jahre gebraucht, um die erforderlichen Mittel zusammen zu tragen. 1913 wird ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben, den der Münchner Architekt Hermann Selzer für sich entscheiden kann. Sein Entwurf einer dem Zeitgeist entsprechenden Jugendstilkapelle wird verwirklicht.

Hell, leicht, filigran bezaubert das Kirchlein bis heute. Für Jost Knauss war und ist es ein wichtiger Ort in vielfacher Hinsicht. Zunächst einmal wirkte seine Mutter, die den Mann im Krieg verlor, hier als Organistin. Jost wurde Helfer der Mesnerin und war als solcher für den exakten zeitlichen Einsatz des Glockengeläuts im Gottesdienst verantwortlich. Außerdem musste er täglich bei Einbruch der Dunkelheit läuten. Damals sei das kein Problem gewesen, weil man noch nicht von Fernsehen, Sportveranstaltungen oder Kino abgelenkt war, konstatiert der Professor. Besonderes Vergnügen hatte er beim Läuten am Silvesterabend: "Die erhöhte Position unserer Kirche verhalf mir oft zu einem Sieg über das Geläut der katholischen Kirche unten im Dorf."

Auch konfirmiert wird er hier - nicht mehr als einziger, sondern mit etwa zwanzig weiteren evangelischen Kindern. Denn die kriegsbedingten Flüchtlingsströme haben zahlreiche Protestanten nach Bayern gebracht. 1968 zieht auch seine Frau Gertrud in das um einen Anbau erweiterte großväterliche Haus mit ein. Sie entstammt einem evangelischen Pfarrershaus und entwickelt ebenfalls bald eine Beziehung zu der kleinen, fünf Minuten Gehweg entfernten Kirche. Hier werden die Kinder getauft, Konfirmationen und Hochzeiten gefeiert.

Unverhofft kommt Gertrud Knauss aber noch zu einer viel engeren Bindung: Mitte der Achtziger Jahre ist der neben anderen Kirchgemeinden auch für Kochel zuständige Pfarrer oft krank; man sucht einen Laien, der als Prädikant, also Hilfsprediger, tätig werden kann. Frau Knauss, als engagiertes Gemeindemitglied bekannt, wird diese Aufgabe angetragen. Donnerstagabend ruft sie der Pfarrer an; am Sonntag soll sie ihre erste Predigt halten. Die Tochter sucht Rat bei Vater Sommerauer, dem ersten Fernsehpfarrer und "Seelsorger der Nation", der ihr Mut zuspricht. Auch der Kirchenvorstand votiert geschlossen für sie. Und da gibt sich Gertrud Knauss, die Hausfrau und vielerorts ehrenamtlich Engagierte, einen Ruck und nimmt die Herausforderung an. "Heute gibt es eine spezielle Ausbildung für Prädikanten", erzählt sie. "Ich hatte damals bloß ein längeres Gespräch mit dem Oberkirchenrat in München, bei dem wir uns vorwiegend über Karl Richter und seine Bach-Tradition unterhalten haben." Und wenn seine Frau die Predigt hielt, wurde Jost Knauss gerne wieder als Hilfsmesner tätig. Mittlerweile haben sich die fast Achtzigjährige und der Zweiundachtzigjährige aus dem aktiven Kirchendienst zurückgezogen. Ihre Verbundenheit mit der kleinen Kirche aber bleibt bestehen: Sie besuchen die Gottesdienste oder kulturelle Veranstaltungen wie die Sommerkonzerte, die Gertrud Knauss vor 20 Jahren initiiert hat. Das Paar ist sich einig: "Diese Kirche ist und bleibt für uns der Identifikationsort mit Kochel!"

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: