Johannes Artus soll der erste Instrumentenbauer in Graslitz gewesen sein; die Kirchenbücher der böhmischen Stadt erwähnen ihn im Jahr 1610. Artus hat der Überlieferung nach Geigen und/oder Lauten hergestellt. Mit seiner Nennung beginnt gewissermaßen auch ein Kapitel der Geschichte Geretsrieds. Denn aus Graslitz, dem tschechischen Kraslice, kamen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die ersten Vertriebenen nach Geretsried, unter ihnen viele Instrumentenbauer. Die Neuankömmlinge bauten auf den Relikten zweier NS-Rüstungsbetriebe die mit 26 000 Einwohnern inzwischen größte Stadt des Landkreises auf. In den Baracken lebten sie lange Zeit, und in manchen Bunkern richteten sie die ersten Betriebe ein. So setzte sich die Graslitzer Instrumentenbauer-Tradition in Geretsried fort.
Fingerfertigkeit und Musikalität
Vierzehn Millimeter - wie winzig das ist, demonstriert Roland Dörfler, indem er seinen Zeigefinger neben das Schräubchen setzt. Es ist das kleinste der 200 Teile, aus denen eine Klarinette gebaut wird. In der Werkstatt des Musikhauses Dörfler in Geretsried lagern all diese Elemente aus Metall und Holz in Dutzenden von Schubladen und -lädchen. Dazu das Werkzeug fürs Feilen, Drehen, Bohren, Schleifen und Polieren, von der handlichen Tonlochreib-Ahle bis zu den fest installierten großen Geräten: Drehbank, Tischler- und Kopiermaschine. Wer das Handwerk des Musikinstrumentenbauers ausüben will, muss Fingerfertigkeit mitbringen - und natürlich Musikalität.
In der Familie Klier-Dörfler trifft dies auf drei Generationen zu. Hans Klier, Großvater von Roland Dörfler, 76, und Urgroßvater von Angelika Dörfler, 53, hat den Betrieb nach seiner Vertreibung aus Graslitz im Egerland, wo er gelernt hatte, zunächst 1946 in Thanning aufgebaut. In seinem Fluchtgepäck hatte er Werkzeug und Schablonen mitgebracht. Fünf Jahre später siedelte er nach Geretsried um. Wie so vieles in dieser Stadt begann auch der Klier-Dörflersche Instrumentenbau in einer ehemaligen Rüstungszwangsarbeiter-Baracke, und zwar am heutigen Ammerseeweg im Stadtteil Stein. Inzwischen adressiert das Musikhaus Dörfler auf der anderen Straßenseite, mit Blick auf die Baracke, die letzte verbliebene im ganzen Stadtgebiet. Die offizielle Gründung des Unternehmens wird auf den Gewerbeeintrag am 2.4.1951 datiert. Heuer ist somit das Jahr des 70. Jubiläums.

Jahrzehntealt sind auch Teile des Holzes, das im Keller des Musikhauses Dörfler aufbewahrt wird. Einiges davon hat noch Ur-Opa Klier gekauft. Das für den Klarinettenbau so kostbare Grenadillholz wurde aus Mosambik importiert. Das war in den Fünfzigerjahren. Und seit 1977, so Angelika Dörfler, habe das Musikhaus, das sie heute als Meisterin leitet, kein neues mehr hinzugekauft. "Das Holz überlebt uns noch", sagt sie im Scherz.
Aus diesem Material, lang abgelagert und auf natürliche Weise getrocknet, wird der größte Teil einer aus Mundstück, Birne, Ober- und Unterstück sowie Becher bestehenden Klarinette hergestellt. Das Grenadillholz sei am besten für das Klangvolumen und den weichen Ton des Instruments, erklärt Meisterin Dörfler. Sie hat das Handwerk wie ihr Vater im Familienbetrieb gelernt. Und wie ihr Vater spielt sie auch selbst Klarinette, zusammen mit ihm, Paul Stark und Hans Harrer als Klarinetten-Quartett; er außerdem bei den "Laurenzi-Buam" und sie in der Starnberger Stadtkapelle.
Im Jahr 1970 hat Roland Dörfler den Betrieb übernommen; seit 2010 führt Angelika Dörfler ihn. Sie sagt, sie schätze "das Vielfältige" an der handwerklichen Arbeit und den Umgang mit der Kundschaft. Er betont "die Feinmechanik" der Metall- und Holzarbeiten.
Mit handwerklicher Qualität und einem umfassenden Service hebt sich das Musikhaus Dörfler von der Billigproduktion etwa chinesischen Ursprungs ab. "Wir sind für Sie da für Reparaturen, Bestellungen, Neuware, Mietinstrumente, Notenbestellungen, Probespielen mit allen nötigen Schutzmaßnahmen", so liest sich das in Corona-Zeiten auf der Homepage. Im Showroom, der mit einem schmalen moosgrünen Sofa, wechselnden Kunstwerken und teils historischen Schwarz-Weiß-Fotos aus der Werkstatt einladend gestaltet ist, präsentieren sich Flöten, Klarinetten und Saxofone. Schallbecher, Rohlinge und Werkzeuge werden als Details ausgestellt, dazu Erklärungen zum Grenadillholz.
Je kleiner eine Klarinette ist, desto höher ist ihre Stimmung. Die Es-Klarinette wird daher auch "Piccolo" genannt. Orchestermusiker spielen überwiegend A- und B-Klarinetten, Volksmusiker, so erläutern die Dörflers, C-Klarinetten.
In der Werkstatt zeigt Roland Dörfler an einem Instrument, das zur Reparatur abgegeben wurde, wie er untersucht, ob die Klappen richtig schließen. Er zieht dazu ein dünnes und langes Band mit Lichtern durch das Instrument. Wenn die Polster nur ein klein wenig abstehen, blitzt das Licht durch - die Klappen sind nicht dicht.
Zu Kliers Zeiten hatte die Produktion einen absoluten Boom. In den Sechzigerjahren verließen Monat für Monat 40 Klarinetten die Werkstatt, sie wurden in die USA exportiert. Damals haben sechs Heimarbeiter die Mechanik der Klarinetten aufgesetzt. Damit lässt sich der heutige Betrieb - schon gar in Corona-Zeiten - nicht vergleichen. Etwa zwanzig Klarinetten, so Angelika Dörfler, würden derzeit produziert.

Heute werkeln Angelika Dörfler und ihr Vater meist allein, allerdings haben sie auch schon ausgebildet. Einen Eindruck davon, was und wie junge Leute hier lernen können, gibt ein Beitrag des Bayerischen Fernsehens aus dem Jahr 2017: "Zwischen Sägespänen und Notenständern". Gefilmt zu werden ist für die Dörflers gar nicht so ungewöhnlich. So sind Vater, Tochter und die mithelfende Mutter Beatrix Dörfler auch in Sybille Kraffts BR-Film "Damals im Isartal" in der Werkstatt zu sehen.
Auf ihrer Homepage können die Dörflers mit einer Rubrik "Referenzen" renommieren, von der Musikkapelle Münsing bis zur Stadtkapelle Unterschleißheim und vom Urenkel des Königs Ludwig III., Max Emanuel Herzog in Bayern, bis zum Jazzmusiker Abdullah Ibrahim aus Südafrika. Max Greger und Hugo Strasser seien Kunden gewesen, Musiker des Münchner Gärtnerplatztheaters, der Berliner und der Wiener Philharmoniker.
Die Bodenhaftung haben sie dabei aber nicht verloren. Im Gegenteil. Mit ihrer "Aktion Heimatrabatt" wollen sie zeigen: "Wir sehen uns als Dienstleister und Mitglied unserer Region. Das heißt, wir verdienen hier unser Geld und geben es hier auch aus. Einkaufen dahoam, das können Sie bei uns seit bald 70 Jahren vor Ort und klimaneutral in Geretsried."
