SZ-Serie: Ehrensache, Folge 2:Frau Marlies hat einen langen Atem

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Flüchtlingshelferin Marlies Woisetschläger ist für viele der in Königsdorf gestrandeten Menschen Respektsperson wie Vertraute. Sie selbst ist "froh, wenn die Leute das Leben hier gut auf die Reihe bekommen"

Von Stephanie Schwaderer, Königsdorf

Frau Marlies kann streng sein. Und sie hat ihre Augen offenbar überall. "Heb das auf, Yaacob", sagt sie, obwohl der kleine Kerl gerade vier Meter schräg neben ihr steht. "Wegschmeißen!", sagt sie. Und der Vierjährige mit den pechschwarzen Haaren bückt sich brav, um die Saftpackung, die er eben noch auf ihre Fußballtauglichkeit testen wollte, in die Tonne zu werfen. "Nicht in die!" Mit ein paar großen Schritten ist sie bei ihm, öffnet die Tonne mit dem gelben Deckel - "In die!" - und setzt ein breites Lächeln auf, als es an der richtigen Stelle "plopp" macht. Wieder ist ein kleines Problem am Königsdorfer Rossmoosweg gelöst.

Frau Marlies heißt eigentlich Woisetschläger, sitzt für die Unabhängige Bürgerliste im Königsdorfer Gemeinderat und ist im Dorf gemeinhin unter ihrem Vornamen bekannt. Zu "Frau Marlies" wurde sie vor drei Jahren, als in der 3000 Einwohner zählenden Gemeinde etwa 40 Flüchtlinge strandeten, die schnell erkannten, dass die große, schlanke Frau mit dem rotbraunen Haar ihr Rettungsanker sein könnte. Sobald sie die ersten Worte Deutsch gelernt hatten, setzten sie respektvoll ein "Frau" vor die "Marlies".

Die 57-Jährige erinnert sich noch gut an diese Tage. Die Bereitschaft im Dorf zu helfen, war groß. "Die Leute waren euphorisch." Aber auch die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Schon die mit Spannung erwartete Begrüßung der neuen Nachbarn am Sportplatz geriet in eine leichte Schieflage. "Manche hatten fest damit gerechnet, dass sie in ein Haus ziehen würden", erzählt sie. Ein Mann habe sich geweigert, einen Fuß in die zur Notunterkunft umfunktionierte Eisstockhalle zu setzen. "Das war heftig."

Eine unentwegte Helferin mit ansteckend positiver Ausstrahlung: Marlies Woisetschläger. (Foto: Hartmut Pöstges)

Drei Jahre später hat sich Vieles verändert. Die Geflüchteten sind in Königsdorf vom Sportplatz an den Rossmoosweg gezogen, einige von ihnen auch in andere Städte oder Länder. Derzeit leben 21 Frauen, Männer und Kinder aus Syrien, Afghanistan, Eritrea und Nigeria in der Unterkunft. Der Helferkreis ist von mehr als 70 Leuten auf etwa 15 Aktive zusammengeschrumpft, die Euphorie in der Gemeinde einer gewissen Gleichgültigkeit gewichen. Frau Marlies aber hat einen langen Atem. Und sie ist überzeugt, dass die dezentrale Unterbringung, wie sie in Königsdorf praktiziert wird, der richtige Ansatz ist. "Es läuft gut bei uns."

Wenn sie sich dem zweistöckigen Gebäude nähert, dauert es nicht lange, bis die ersten Kinder angerannt kommen. Ein Mädchen fällt ihr um den Hals, ein kleiner Bub umarmt ihr Bein. Sie lacht, schwatzt, nimmt ein Baby auf den Arm. Keine fünf Minuten später sitzen zwei Männer an ihrer Seite, die ihr weiße und gelbe Briefe präsentieren. "Das muss ich mir in Ruhe anschauen", sagt sie. Oder: "Da ruf ich morgen gleich an." Der ganze Papierkram, der Gang zu den Behörden, ist für sie zum Tagesgeschäft geworden. Ein wichtiges Bindeglied sei der Verein "Hilfe von Mensch zu Mensch", sagt sie. "Ich weiß nicht, wie Leute ohne gute Deutschkenntnisse das alleine schaffen sollten."

Daneben übernimmt sie Beratungsaufgaben, die von der Mülltrennung bis zur Empfängnisverhütung reichen. Ihre soziale Rolle ist irgendwo zwischen Tante, Oma und Feuerwehr angesiedelt. Sie hat Kinder eingeschult und Therapieplätze gesucht, an Krankenbetten gesessen und auf Hochzeiten getanzt. Sie war dabei, als Familien zerbrachen - und als Yaacobs Eltern sich nach zwei Jahren fluchtbedingter Trennung erstmals wieder am Münchner Flughafen gegenüberstanden. "Es macht mir Freude zu helfen", sagt sie, "und ich bin froh, wenn die Leute das Leben hier gut auf die Reihe bekommen."

Wie viele Stunden sie dafür jede Woche im Einsatz ist? "Drei mal drei", schätzt sie. Ihr Mann, der diese Antwort hört, lacht laut auf. "So lange sitzt du allein schon im Auto!" Dieses Ehrenamt koste Zeit und Geld, sagt er. "Wenn wir auf ein zweites Gehalt angewiesen wären, könnten wir es uns nicht leisten."

Marlies Woisetschläger ist gelernte Erzieherin und arbeitet bei der Mittagsbetreuung der Königsdorfer Schule. Sie ist als drittes von sieben Kindern in einem Bauernhof unterhalb der Kirche aufgewachsen. 20 Jahre hat sie in München gelebt. Seit sie wieder zurück ist, engagiert sie sich für die Dorfgemeinschaft. "Ich brauch Menschen um mich", sagt sie. Dass ihre eigenen beiden Kinder gerade das Haus verlassen haben, erleichtert ihr die häufigen Besuche am Rossmoosweg. "Die Bügelwäsche kann warten."

Yaacob hat sich mit einem Adventsbuch hinter sie gekuschelt und tut so, als ob er lesen würde. Sein Finger wandert dabei von rechts nach links. Seine großen Geschwister sind gut in der Schule, sprechen fließend Deutsch. Einer seiner Brüder geht zu den Trachtlern und trägt mit Stolz die Lederhose, die Frau Marlies für ihn aufgetrieben hat.

"Die Kinder sind auf einem guten Weg", sagt Marlies Woisetschläger. "Aber die Erwachsenen werden weiterhin Unterstützung brauchen." Es seien eben nicht nur Akademiker nach Deutschland gekommen, sondern "ganz normale Menschen" - auch solche, mit denen man unter anderen Bedingungen nicht so viel Kontakt hätte. "Aber zu sagen: ,Das lohnt sich nicht', das bin nicht ich."

Im Helferkreis, vor allem im Austausch mit Christiane Seitz-Britziolas, findet sie Unterstützung. Manchmal fühle sie sich trotzdem überfordert, sagt sie. Manchmal liege sie wach. Manchmal sitzt sie aber auch einfach mit Yaacobs Vater vor der Flüchtlingsunterkunft am Rossmoosweg. "Terrasse" nennt sie das Betonfundament, auf dem ein paar klapprige Stühle stehen. Probleme wie Mülltrennung und Putzdienste würden in solchen Momenten ganz klein. "Wir schauen zusammen in den Sternenhimmel. Und keiner muss etwas sagen."

© SZ vom 19.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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