SZ-Serie: Bau-Geschichten:Inseln, Türme und gestapelte Bauernhäuser

Wie werden die Menschen künftig in der Region leben und wohnen? Für die Penzberger Architekten Anna Gmelin und Thomas Grubert steht zumindest so viel fest: Das Einfamilienhaus hat ausgedient.

Interview von Stephanie Schwaderer

1000 Jahre Architektur und vielfältige Beziehungen von Menschen zu ihren Häusern hat die SZ-Serie "Baugeschichten" beleuchtet. Zum Abschluss werfen zwei kreative Planer aus Penzberg einen Blick in die Zukunft: Anna Gmelin und Thomas Grubert kamen zum Interview ins Museum Penzberg - Sammlung Campendonk.

SZ: Auf welches moderne Gebäude wird man in Penzberg in 150 Jahren noch stolz sein?

Thomas Grubert: In 150 Jahren? Wenn's gut läuft, wenn kein Krieg dazwischenkommt, wird dieses Museum vielleicht noch stehen. Es wurde sehr stabil gebaut. Ob man darauf stolz sein wird, kann ich nicht sagen. Vermutlich ist Penzberg dann mit München verwachsen.

Anna Gmelin: Es geht ja nie allein um ein Gebäude, sondern um das soziale System, das daran hängt. Für mich war der Beginn der Innenstadtgestaltung in Penzberg wegweisend, dieser Impuls: In welche Richtung wollen wir? Gehen wir das Ganze doch mal neu an!

Grubert: 2003, als wir mit der "Architektengruppe P" den Wettbewerb "Neugestaltung der Penzberger Innenstadt" gewannen, haben wir den gesamten Stadtkern bearbeitet und einen Rahmenplan für 30 Jahre vorgelegt. Es ging um die Frage: Wie sollte oder könnte sich die Stadt in den nächsten drei Jahrzehnten verändern. Aber 30 Jahre sind im Städtebau eigentlich gar nichts. Das ist ein Fehler, der allen Planern immer wieder unterläuft: Sie vergessen die vierte Dimension, die Zeit. Die Planung muss sich an soziale und politische Veränderungen anpassen können.

Gmelin: Das geht schon mit den Autos los. Was ist, wenn sich die Mobilität fundamental ändert?

Grubert: Und die wird sich fundamental ändern müssen. Das ist seit Jahren ein Hauptthema im Städtebau: Wie kann man Wohnen und Arbeiten zusammenbringen? Diese Pendlerei ist ein Unding.

Wie könnte man dieses Problem lösen?

Gmelin: Die eine Lösung gibt es nicht. Man muss flexibel bleiben und individuelle Antworten suchen.

Grubert: Fakt ist: Architektur ist nicht statisch. Sie ist ständig in Bewegung.

Aber Bausünden stehen erst einmal da. Die verschwinden nicht in 30 Jahren.

Grubert: Was heißt Bausünden? Man muss der Architektur wahrscheinlich 100 Jahre Zeit geben, sich zu verwurzeln. Meistens will man sich von den Dingen, die einem nah sind, lösen, man will sich ja selber definieren.

Gmelin: Das ist wie in der Pubertät.

Grubert: Ich sage mal: Wenn wir noch 30 Jahre warten, werden die vermeintlichen Bausünden der Achtzigerjahre wieder spannend. Im Moment sind die Fünfziger en vogue, die hatte man einige Zeit auch fürchterlich gefunden. Und so war das über die Jahrhunderte - sonst würde es nicht so viele Stilrichtungen geben.

Gmelin: An dem Wort "Bausünde" stört mich, dass es meist oberflächlich verwendet wird. Und wir dürfen Stil nicht mit guter Gestaltung verwechseln. Vielleicht gefällt jemandem eine Sechzigerjahre-Fassade nicht, weil er gerade den Eighties-Tick hat. Objektiv kann die Fassade dennoch gut proportioniert und gestaltet sein, und noch wichtiger: Das Haus kann einen menschenfreundlichen Grundriss haben. Man sollte grundsätzlich die Bewohner eines Gebäudes fragen, wie es sich dort lebt.

Grubert: Momentan sehe ich in den Städten zwei Gefahren: einerseits eine Entvölkerung an manchen Stellen und andererseits eine massive Verdichtung. München hat pro Jahr 30 000 Zuzügler - und die brauchen nicht nur Wohnraum, da hängt eine ganze Infrastruktur dran.

Auch auf der Region lastet ein starker Druck, die Preise steigen. Ist der Ruf nach schnellem, einfachem und günstigem Wohnraum der richtige Weg? Ist das nicht das Gegenteil von durchdacht, hochwertig und nachhaltig?

Grubert: Dieser Druck ist eine Chance! Die Konzepte liegen auf dem Tisch. Ich behaupte mal: Gute Gestaltung ist nicht teuer und hat nichts mit teuren Baustoffen zu tun. Ich war gerade vier Tage in Vorarlberg, das ist eine komplett andere Kultur.

Gmelin: Dort gibt es eine starke Verbindung von den Holz verarbeitenden Firmen zu Architekten. Die ziehen dort an einem Strang. Die Leute bekommen eine Architekturzeitschrift kostenlos ins Haus geliefert - so wie wir das Gelbe Blatt. Das ist eine Art Grundbildung und ein Image-Thema, da muss man dabei sein.

SZ-Serie: Bau-Geschichten: Ein Modell fürs Oberland? In Zaandam bei Amsterdam hat der Architekt Wilfried van Winden ein Hotel entworfen. Die Struktur besteht aus gestapelten Häusern, die typisch für das Zaangebiet sind.

Ein Modell fürs Oberland? In Zaandam bei Amsterdam hat der Architekt Wilfried van Winden ein Hotel entworfen. Die Struktur besteht aus gestapelten Häusern, die typisch für das Zaangebiet sind.

(Foto: WAM Architecten)

Grubert: Das große Glück dort war wohl, dass es einen Pool von Architekten gibt, die zusammen in Wien studiert haben. Sie haben sich gemeinsam auf den Weg gemacht und etwas bewegt, wie ich es in dieser Dimension nicht kenne. Wir haben hier 1998 mit dem Wessobrunner Kreis etwas Ähnliches gestartet. Er agiert vor allem um den Ammersee herum, und dort merkt man auch, dass sich die Qualität der Architektur verändert. Das schafft kein einzelner. Das Verständnis muss da sein - bei den Architekten, aber auch in der Bevölkerung.

Warum sind die meisten Neubaugebiete in der Region so trostlos?

Grubert: Im Bereich der Einfamilienhäuser liegt es ganz einfach daran, dass dort vor allem Bauträger agieren. Da geht es den meisten um maximalen Gewinn, nicht um Gestaltung.

Gmelin: Aber nicht jedes Einfamilienhaus muss ein individuelles Architektenhaus sein, oder? In Kombination mit den einschlägigen Bauherren kann eine Reihe solcher Häuser nebeneinander sogar penetrant wirken. In Norddeutschland gibt es meines Wissens Gemeinden, die angehenden Bauherren pro Bauvorhaben eine Beratung durch einen unabhängigen Architekten im Wert von 300 Euro spendieren. Menschen, die einen solchen Betrag lieber in die Einbauküche investieren würden, hören dann plötzlich etwas über Gestaltung, denn "es kostet ja nichts". Das ist einerseits traurig, aber eben auch eine große Chance.

Lassen Sie uns einen gedanklichen Sprung in die Zukunft machen: Wie könnte in 30 Jahren eine ideale Neubausiedlung in der Region aussehen?

Grubert: Sagen Sie mir erst, wie die Gesellschaft in 30 Jahren aussieht. Hatten Sie vor 30 Jahren ein Handy? Nein. Heute kann man sich eine Gesellschaft ohne Internet gar nicht mehr vorstellen.

Laut Statistischem Landesamt sind es vor allem Familien mit Kindern und Senioren, die von der Schönheit der Natur in den Münchner Süden gelockt werden.

Gmelin: Von einer Schönheit, mit der es dann bald vorbei sein könnte. Man muss sich nur eine Landkarte nehmen und 300 000 Einfamilienhäuser einzeichnen.

Grubert: Das Einfamilienhaus ist unsinnig, wenn sich die Bevölkerung verdichtet. Zudem ist es auch unter ökologischen Gesichtspunkten völlig unwirtschaftlich.

Gmelin: Natürlich wird es immer Leute mit viel Geld geben, die sich eine Villa bauen. Aber für den Großteil der Menschen wird man sich andere Strukturen einfallen lassen müssen: Gebündelte mit einem Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr. Das Wichtigste ist, die Vielfalt und die Identität der Orte zu erhalten. Es kann nicht sein, dass in Königsdorf dieselben Gebäude stehen wie an der Hackerbrücke. Regionale Gestaltung sollte den Menschen ermöglichen, sich mit ihrem Wohnort zu identifizieren.

Grubert: Dann müsstest du vielerorts Bauernhäuser übereinander stapeln. Kein Witz: In Zaandam bei Amsterdam haben sie das gemacht. Die größte Chance, sich wirklich zu verändern, haben aber Städte wie Penzberg oder Geretsried, Orte ohne mittelalterlichen Kern. Dort könnte man radikal verdichten. Warum keine zehnstöckigen Häuser bauen? Nicht diese 08/15-Dinger. Ich weiß: Wenn du sagst, zehn Stockwerke, stehen den Leuten erst einmal die Haare zu Berge. Aber es gibt unzählige Beispiele, dass so etwas supergut werden kann.

Gmelin: Die Frage ist: Wie kann ich ein Hamburger Planungsbüro oder einen Dresdner Bauträger dafür begeistern, regional und oberbayerisch zu denken - und zugleich zeitgemäß? Die Gemeinden, zumindest ein qualifizierter Teil der Gemeinden, sollte darauf Einfluss nehmen dürfen. Ist das realistisch? Auf alle Fälle sollte die Diskussion darüber gefördert werden, auch wenn das so mühsam ist wie Demokratie.

Wer wäre für diese Diskussion qualifiziert?

Gmelin: Jeder, der sich interessiert und über eine entsprechende Grundbildung verfügt - damit meine ich kein Universitätsstudium. Am besten wäre es, wenn jeder schon in der Schule für das Thema sensibilisiert würde. Wir alle werden schließlich von der Architektur, die uns umgibt, geprägt.

Grubert: Ein Kind, das am Morgen in die Schule geht, geht an gebauter Umwelt vorbei, die es prägt. Es gibt bessere Orte und es gibt schlechtere Orte. Alle diese Orte sind Heimat für Menschen. Wenn ein Mensch 14, 15 Jahre alt ist, kann man ihn nur noch schwer von gewissen Dingen abbringen. Das ist, wie wenn man Jahre lang nur Fischstäbchen gegessen hat. Dann wird man nicht verstehen, welch ein Genuss Spaghetti vongole sein können.

SZ-Serie: Bau-Geschichten: "Architektur ist nichts Statisches": Thomas Grubert und Anna Gmelin vor dem Penzberger Museum - einem Paradebeispiel dafür, dass sich Alt und Neu bestens kombinieren lassen.

"Architektur ist nichts Statisches": Thomas Grubert und Anna Gmelin vor dem Penzberger Museum - einem Paradebeispiel dafür, dass sich Alt und Neu bestens kombinieren lassen.

(Foto: Harry Wolfsbauer)

Wer sollte die Diskussion leiten?

Grubert: Architekten sind Spezialisten auf diesem Gebiet. Natürlich gibt es auch unter ihnen eine unendliche Vielfalt, und natürlich hauen auch sie sich die Köpfe ein. Aber ihre Aufgabe wäre es, den Prozess gestalterisch zu lenken. Die erste Frage ist: Will ich mich weiter ausbreiten und damit meine Umgebung zerstören? Oder will ich sie erhalten, dann muss ich nach oben oder nach unten. In die Tiefe will eher keiner, also muss ich in die Höhe. Wenn ich beispielsweise Penzberg radikal verändern will, muss ich viele Leute überzeugen, dass sie diesen Weg mitgehen. Das kann kein Stadtrat allein entscheiden.

Gmelin: Individuelle Lösungen kosten Zeit und Geld. Mein erstes Praktikum habe ich im Bereich Dorferneuerung gemacht. Ich habe meine Chefin damals bewundert,wie sie mit Langmut und Geduld mit jedem einzelnen Hauseigentümer verhandelt hat. Das Ergebnis war fantastisch. Wichtig ist das Marketing: Man muss ein möglichst breites Interesse wecken. Auch in den sozialen Medien. Könnte ja passieren, dass sich die Generation, die nachwächst, stärker dafür interessiert.

In Geretsried entsteht gerade ein neues Stadtzentrum. Dort gibt es zwar viel Protest, aber wenig Diskussion. Was könnte man Ihrer Ansicht nach besser machen?

Grubert: Grundsätzlich, denke ich, müssten in einem solchen Fall Arbeitsgruppen gebildet werden. Man muss zusammen herausfinden: Wo wollen wir hin? Und diese Arbeit - Planungsarbeit, Vorarbeit - muss bezahlt werden. Dazu müsste es Mittel von der Kommune oder auch der Regierung geben, zum Beispiel Städebaufördergelder. Und dann gilt es, auch Dinge in den Raum zu stellen, die erst einmal keiner hören will. Ich weiß nicht, ob wir schon so weit sind. Aber ich könnte mir sehr wohl verdichtete Zentren vorstellen, Inseln, die ganz anders ausschauen als das, was wir bisher gesehen haben. Die lebenswert sind und schön ausschauen.

Zu neuen Wohnformen gibt es mittlerweile viele Ideen. Weitgehende Einigkeit besteht vermutlich darin, dass nicht jeder einen eigenen Garten haben muss. Braucht jeder eine eigene Küche?

Grubert: Das kann man nicht pauschal beantworten. In Berlin gibt es schon Wohnungskomplexe ohne eine einzige Küche. Das ist alles outgesourcet.

Gmelin: Konsumgesellschaft hoch Zehn! Nein danke.

Grubert: Erwiesen ist: Je enger die Menschen zusammenrücken, desto wichtiger ist es, dass sie sich voneinander trennen können. Jeder braucht seine eigenen vier Wände, aber diese Privatsphäre muss nicht groß sein. Wir müssen lernen, mit weniger auszukommen. Wir brauchen minimalistische Lösungen.

Gmelin: Da gibt es ja verschiedenste Vorschläge. Zum Beispiel tolle Boxen, in die man hineinkrabbelt. Ich jedoch habe zum Beispiel viele Bücher, die Teil meiner Identität sind, und die ich nie in einer solchen Box unterbringen würde. Oder ältere Menschen mit Parkinson: Die kommen da weder rein noch raus. Familien mit Kindern? Musiker? Oder Menschen mit Demenz: Sie brauchen Dinge, die sie an die Vergangenheit erinnern. In vielen Fällen wären solche plakativen Lösungen geradezu menschenfeindlich. Man müsste also Zielgruppen definieren: Alte, Junge, Kranke, Gesunde, Singles, Familien, Jurtenschläfer . . .

Gehen wir mal von einer Durchschnittsfamilie mit einem Durchschnittseinkommen aus. Wie könnte man ihr zu attraktivem, bezahlbarem Wohnraum verhelfen?

Gmelin: Die erste Frage ist: Muss ich immer alles besitzen? Könnten die Gemeinden vielleicht Grundstücke in Erbpacht ausweisen? In unserer Region kann sich ja keiner mehr ein Stück Grund leisten. Die nächste: Wie viel Platz brauche ich wirklich? Ich würde sagen: Derzeit könnten viele Haushalte auf ein Viertel bis Fünftel ihrer Wohnfläche verzichten, wenn die Grundrisse besser strukturiert wären. Mal abgesehen von so manchen Senioren im Münchner Süden, die alleine auf 200 Quadratmeter wohnen.

Grubert: Das wird sich ändern, das wird künftig nicht mehr möglich sein. Auch wenn es weiterhin noch einige Großverdiener geben wird: Die jetzige Mittelschicht wird vermutlich nach unten driften. Und dann muss es andere Lösungen geben.

Gmelin: Aber man muss das Rad ja nicht neu erfinden. Es gab auch früher schon sinnvoll überlegte Planung: Alles, was man braucht, auf kleinem Raum. Wenn der Pubertierende aus der Pubertät heraus ist, sieht er vielleicht, dass die Alten doch nicht alles falsch gemacht haben?

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