SZ-Adventskalender:Schonzeit für die Daube

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In Geretsried betreiben Senioren und Menschen mit Behinderung zusammen eine seltene Sportart: das Bosseln. Die Corona-Krise steht allerdings seit einem Dreivierteljahr dem sonst regen Vereinsleben entgegen.

Von Florian Zick, Geretsried

Franz Blecha möchte zunächst einmal etwas klarstellen: Boßeln und Bosseln - das sei nicht das Gleiche. Geboßelt werde vor allem im norddeutschen Raum, in Ostfriesland und Umgebung. Das sei eine Art Langstreckenkegeln im Freien. Das Bosseln mit zwei S dagegen sei etwas komplett anderes. "Das ist wie Eisstockschießen in der Halle", sagt Blecha. Man müsse sich ob dieser Unkenntnis aber nicht grämen: "Das haben viele andere auch schon verwechselt."

Seit 20 Jahren wird in Geretsried jedenfalls das Bosseln mit dem Doppel-S betrieben. Bis zum Jahr 2000 konnte man bei den dortigen Reha-Sport-Freunden (RSF) nur Wassergymnastik machen, einfache Gymnastik und Kegeln. Weil der Bewegungsablauf beim Bosseln aber auch für Senioren gut machbar ist, kam dann noch das Eisstockschießen in der Halle dazu. Wie bei der Outdoor-Variante treten dabei zwei Mannschaften gegeneinander an. Auf einer zehn bis zwölf Meter langen Bahn muss man die knapp fünf Kilogramm schweren Bosselstöcke per Wurf möglichst nah an die sogenannte Daube heranschieben, einen Zielwürfel. Die Mannschaft, die am Ende näher dran ist, gewinnt die Runde.

Die Reha-Sport-Freunde Geretsried waren in dieser Sportart bisher durchaus erfolgreich. Die Mannschaft bestand zunächst aus ehemaligen Eisstockschützen, zwei vom ESV Geretsried, zwei vom SV Weidach. 2005 wurde die Mannschaft Deutscher Vizemeister, zwei Jahre später sogar Meister. Dann sank der Stern des Vereins so langsam. "Jeder hat seine Wehwehchen gehabt", erinnert sich Blecha, der 2003 für vier Jahre den Vereinsvorsitz übernommen hatte. Die Damenmannschaft wurde vor sechs Jahren noch einmal Bayerischer Meister, die Herrenmannschaft fiel auseinander. Um die Bosselabteilung wurde es erst einmal ruhig.

Erst vor zwei Jahren wurde die Abteilung so richtig wiederbelebt. Der Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband Bayern hatte da die Gründung von Inklusionsmannschaften angeregt. Seitdem gibt es in Geretsried wieder eine Bosselmannschaft. Franz Blecha jagt nun selbst der Daube hinterher. Als Spielertrainer und Mannschaftsführer hat er zwei ältere Damen um sich geschart, die 82-jährige Trude Hepp und die 87 Jahre alte Ilse Hauder. Beide sind von der Gymnastikabteilung der Reha-Sport-Freunde rübergewechselt. Dazu kommt Didian Jack, ein 28-Jähriger von den Oberlandwerkstätten, dem Blecha bei einer Werbetour durch die Behinderteneinrichtungen im Landkreis das Bosselspiel schmackhaft machen konnte.

Diese Mannschaft wurde vergangenes Jahr in Gundelfingen schwäbischer Meister - was fast gleichbedeutend sei mit einer Deutschen Meisterschaft, sagt Blecha. Das Bosseln sei nämlich vor allem im schwäbischen Raum und ein bisschen noch in der Oberpfalz verbreitet. Immenstadt, Sonthofen, Gundelfingen - das seien die Hochburgen. Und eben das oberbayerische Geretsried.

Seit seiner Gründung vor zwei Jahren hat das Inklusionsteam der Bosselabteilung jede Woche trainiert, immer freitags in der Turnhalle der Karl-Lederer-Schule, 18 Uhr bis 20 Uhr. Meistens kamen so sieben, acht Leute - also nicht nur die Kernmannschaft. "Da haben immer auch ein paar andere noch mitgespielt", sagt Blecha. Doch seit April, seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie, ist in der Halle nichts mehr los. "Die lassen uns nicht mehr rein", sagt Blecha. Irgendwo sei das schon auch nachvollziehbar, findet er. Die Bosselstöcke würden schließlich durch mehrere Hände wandern. Das sei nicht günstig, wenn man die Infektionswege unterbrechen möchte. "Jetzt warten wir mal, wie es nach Weihnachten ausschaut", sagt Blecha. Bis dahin wird aber sicher nicht mehr gebosselt.

Dass derzeit auch sportlich nichts stattfinden kann, "schlimm", sagt Blecha. Gerade für ältere und behinderte Menschen sei der Sport schließlich eine gute Möglichkeit, etwas mehr am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Bei so einer langen Zwangspause bestehe zudem immer die Gefahr, dass das Team auseinanderfalle. Blecha ruft seine Mitspieler deshalb regelmäßig an, mindestens einmal in der Woche. Das soll den Zusammenhalt stärken. Die Mitgliedschaft bei den Reha-Sport-Freunden Geretsried ist zwar nicht teuer, rund 100 Euro kostet der Jahresbeitrag, die Bosselspieler zahlen sogar nur 45 Euro. Aber wenn sportlich nichts geht, dann werden viele den Verein doch irgendwann verlassen, fürchtet Blecha.

Der 76-Jährige würde selbst gerne so schnell wie möglich wieder loslegen. Die Bosselstöcke des Vereins seien zwar in die Jahre gekommen, das 1500 Euro teure Set müsse man dringend mal austauschen, sagt er. Die Bürsten, auf denen die Spielgeräte über den Hallenboden schlittern, seien doch schon arg abgewetzt. Er vermisse das wöchentliche Training aber trotzdem sehr. Er gehe zwar ab und zu zum Stockschießen in Weidach - natürlich mit Maske und mit Abstand. Aber das alleine sei auch kein Ersatz.

Blecha war sein ganzes Leben lang sportlich aktiv. Der Pensionär wurde in Oberfranken geboren, in Bad Staffelstein. Als Polizist hat es ihn beruflich zunächst nach Herzogenaurach verschlagen. Dort hat er Handball gespielt, später dann mit den Kollegen vom Landeskriminalamt in München Fußball. Und als er 1980 dann nach Geretsried zog, schloss er sich der Faustball-Mannschaft des dortigen Turn- und Sportvereins an. Das Faustballspielen hat ihm körperlich allerdings stark zugesetzt. "Ich habe Probleme mit den Schultern bekommen", erinnert sich Blecha. Als er dann bei den Eisstockschützen in Gelting mal zugeschaut hat und die ihn gleich zum Mitmachen einluden, hatte er einen neuen Sport für sich entdeckt. Mit der Variante als Bosseln in der Halle brauchte man dafür nicht einmal mehr Eis. So konnte man den Sport das ganze Jahr über betreiben.

Und nun also die Corona-Krise. "Das ist schon sehr schade, dass wir momentan nicht zusammenkommen können", sagt Blecha. Bis das wieder geht, beschäftige er sich eben nun anderweitig. Bäume ausschneiden, Hecken zurechtstutzen - der Garten muss schließlich immer gepflegt werden. Und irgendwann, so hofft er, wird man auch der Daube wieder zu Leibe rücken können.

© SZ vom 05.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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