SZ-Adventskalender:Ohne Druck zu neuen Zielen

Nach einem schweren Unfall und vielen Behandlungen findet Michael H. in den Oberland-Werkstätten eine angemessene Aufgabe.

Von Felicitas Amler

Die Kleinigkeiten lässt Michael H. einfach weg. Dass er sieben Zähne verloren hat, zum Beispiel. Im Vergleich zu allem anderen, was er bei seinem schweren Unfall vor 13 Jahren erlitten hat, ist das wahrhaft unbedeutend. Der junge Mann, damals im dritten Jahr seiner Ausbildung zum Werkzeugmechaniker, saß am Steuer, neben und hinter ihm drei Freunde, als ein Lastwagen in sein Auto donnerte. Er kann sich daran so wenig erinnern wie an alles, was in einem Dreivierteljahr davor und in den vier Monaten danach geschah. Eine Schutzreaktion des Gehirns.

Michael H. hat bei diesem Unfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und eine Hirnblutung erlitten, sechs Rippen wurden in seine Lunge gequetscht, eine Körperseite war zu 95 Prozent gelähmt. Monate später erwachte er nach und nach aus dem Koma, in das die Ärzte ihn versetzt hatten, an einem Tag für ein paar Minuten, am nächsten ein paar mehr. Daran erinnert er sich. Er habe gesehen, dass Arm und Bein in Gips lagen, und gedacht: Ah, da ist dir wohl beim Fußball was passiert, erzählt er. Ein anderes Bild taucht auf: Wie er im Rollstuhl irgendwohin geschoben wird. Und dann eines Tages sagt eine Therapeutin zu ihm: Herr H., wollen wir mal ein paar Schritte gehen? Und er denkt: Spinnt ihr? Ich kann doch gehen.

Er konnte es nicht. So wenig, wie er andere Bewegungen ausführen konnte oder sprechen oder ... "Dass hinter dem Gehen noch so viele zigtausend kleine Sachen liegen, die ich wieder lernen musste, das habe ich nicht gedacht", sagt Michael H. heute. Er ist inzwischen 31 Jahre alt, hat drei Jahre in verschiedenen Rehabilitationseinrichtungen hinter sich, acht Stationen deutschlandweit, und das Berufsbildungswerk, in dem er sich überhaupt erst wieder auf eine Arbeit vorbereiten musste. Er ist an einem Ziel angekommen, mit dem er "erst mal" zufrieden ist, wie er sagt. In den Oberland-Werkstätten Gaißach hat er einen guten, gesicherten und beschützten Arbeitsplatz. So wie 150 andere Menschen mit Behinderung, die in Gaißach je nach ihren Möglichkeiten arbeiten.

Die Oberland-Werkstätten sind eine gemeinnützige GmbH mit vier Standorten, Gaißach, Geretsried, Miesbach und Polling. In Gaißach gibt es computergesteuerte Metallbearbeitungsanlagen, es werden dort Produkte aus Holz gefertigt, eine Großwäscherei gehört zum Betrieb und eine Versorgungsküche. Unter den Kunden sind anspruchsvolle Unternehmen wie der Flugzeugbauzulieferer Sitec-Aerospace oder der Dichtungshersteller Eagle-Burgmann; Wäsche wird in Gaißach nicht nur fürs Josefistift in Bad Tölz und das Pflegeheim Lenggries gewaschen, sondern auch für Vier-Sterne-Häuser wie den Tölzer Hof oder die Seeshaupter Seeresidenz.

Wer sich von Carolin König, die den Betrieb zusammen mit Alfred Tkaczik leitet, durch die Abteilungen führen lässt, trifft allenthalben auf freundliche, zugewandte und aufgeschlossene Mitarbeiter. Die einen setzen Metallspiralen zusammen, andere bringen Kabel und Ösen in Form oder falten Verpackungen für Lochverstärker von Zweckform - auch dies ein großer Kunde des Hauses. Michael H., der übers Berufsbildungswerk eine Ausbildung zum Werkzeugmaschinen-Spaner absolviert hat, bevor er in Gaißach landete, hat hier eine qualifizierte Tätigkeit: Er schreibt Programme für eine CNC-Maschine, mit der die Präzision gefertigter Teile überprüft wird. "Meine Arbeit hier mache ich so gut wie selbständig", sagt er.

Die Oberland-Werkstätten ermöglichen ihren Mitarbeitern immer wieder Praktika in der freien Wirtschaft. So war Michael H. einmal für zwei Wochen bei Sitec in Bad Tölz. Das sei schon "ein bisschen anstrengend" gewesen, sagt er. Nach dieser Erfahrung weiß er, was er an seinem Job bei den Oberland-Werkstätten hat: "Es ist hier etwas geschützter als auf dem ersten Arbeitsmarkt." Dort herrsche doch mehr Druck.

Dabei ist Michael H. durchaus ein Kämpfer. Wenigstens ist das ein Wort, das in seiner Erzählung immer wieder auftaucht. Als ihm klar geworden sei, was er nach dem schweren Unfall alles wieder erlernen musste, habe er sich gesagt: Okay, den Kampf nimmst du auf. Aus seinen Reha-Aufenthalten, auch bei der Neurokom in Bad Tölz, weiß er: "Das Lernen mit Schädel-Hirn-Trauma liegt sehr am eigenen Willen." Den hat er offenbar, denn er sagt: "Ich habe mir immer eigene Ziele gesetzt." Manche kann er abhaken - Arbeit, Wohnung -, manche liegen noch vor ihm, und es gab auch das ein oder andere, das er aufgeben musste. Fußball zum Beispiel, seine Leidenschaft vor dem Unfall. Er hat es versucht, ist bei seiner alten Mannschaft wieder eingestiegen - und musste feststellen: "Das wird nichts mehr." Stattdessen geht er jetzt viel ins Fitnessstudio und spielt Racquetball. Ob das nicht genauso anstrengend ist wie Fußball? Nein, sagt er, es seien kürzere Sprintstrecken, das schaffe er besser. Früher konnte er in Bad Tölz spielen, doch nun gibt es dort die Racquetball-Halle nicht mehr; da führt ihn seine Sport-Leidenschaft schon mal nach Wiesbaden oder Hamburg. Und ein neues Ziel hat sich Michael H. auch gesetzt: die nächste Racquetball-Europameisterschaft. "Ich habe kaum eine Chance, aber ich will dabei sein."

Michael H. wird seine kleinen - und vielleicht auch die größeren - Ziele ohne großen materiellen Aufwand schaffen. Die Oberland-Werkstätten in Gaißach aber können die Unterstützung der SZ-Leser brauchen. Das Fahrzeug, mit dem sie Mitarbeiter zu Außenarbeitsplätzen begleiten, sie zu anderen Betrieben fahren, gelegentlich auch zum Arzt oder, wenn nötig, nach Hause, ist fällig. Der SZ-Adventskalender möchte den Werkstätten die Anschaffung eines neuen Nutzfahrzeugs ermöglichen.

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