SZ-Adventskalender:Anker im Alter

SZ-Adventskalender: Gemeinsam statt einsam: Ernst Wieser hilft Marie-Luise Schubert, die ihre Wohnung nicht mehr alleine verlassen kann, bei der Bestellung am Computer.

Gemeinsam statt einsam: Ernst Wieser hilft Marie-Luise Schubert, die ihre Wohnung nicht mehr alleine verlassen kann, bei der Bestellung am Computer.

(Foto: Harry Wolfsbauer)

Der Wolfratshauser Nachbarschafsthilfeverein "Bürger für Bürger" hilft Seniorinnen und Senioren aus der Isolation. Die beliebten Treffen müssen wegen der Pandemie weitgehend entfallen, aber die wichtige Unterstützung im Alltag geht weiter.

Von Konstantin Kaip

Die Zeit des Aufatmens war für Margit Brandes nur kurz: Dreimal konnte die Seniorin nach einhalbjähriger pandemiebedingter Pause wieder dienstags an ihrer geliebten Sitzgymnastik mit anschließendem Mittagstisch des Nachbarschaftshilfevereins "Bürger für Bürger" (BfB) im evangelischen Gemeindezentrum Wolfratshausen teilnehmen. Nun sind die Inzidenzen bedrohlich gestiegen, die Regeln schärfer geworden. Und der Höhepunkt ihrer Woche muss für die Waldramerin bis auf Weiteres wieder entfallen. "Es ist sehr schade, dass das wieder unterbrochen wurde", sagt Brandes. "Aber ich sehe es ein." Schließlich, fügt sie hinzu, sei sie selbst eine Risikopatientin.

Brandes führt das Gespräch lieber an der Türschwelle ihres Hauses, in dem sie seit 60 Jahren lebt, ihre Gesichtsmaske behält sie auf. Korrekt ist sie auch bei Zeitangaben. "Ich bin 88 einhalb Jahre alt", sagt sie. Vor 32 Jahren habe sie eine Spenderniere gekriegt. "Und das funktioniert so gut, dass ich noch lebe." Alle acht Wochen müsse sie zur Blutabnahme, dreimal sei sie schon gegen Corona geimpft, erzählt die Witwe, die auf ein möglichst selbständiges Leben Wert legt. Sie bekommt Essen auf Rädern, morgens und abends kommt eine Mitarbeiterin eines Pflegedienstes, die ihr bei der Körperpflege hilft. "So sehe ich ab und an doch andere Gesichter", sagt Brandes und lächelt. Zwar habe sie noch eine Tochter und einen Sohn mit Familien in Wolfratshausen, die andere Tochter lebe in Österreich, sagt sie. "Wenn ich was brauche, sind sie da." Aber: "Ich möchte alles so gut es geht alleine machen."

Alleine sein will Brandes aber nicht. Dagegen helfen ihr die Veranstaltungen des Seniorentreffs von BfB - "seit siebeneinhalb Jahren", wie die Waldramerin präzisiert. Nach dem Tod ihres Mannes habe sie einen Artikel über den Verein in der Zeitung gelesen. "Ich hab mich gleich angemeldet und es nicht bereut." Bei Gymnastik, Mittagstisch, geselligen Nachmittagen und anderen Veranstaltungen habe sie wertvolle Bekanntschaften geschlossen. Nun müsse sie mit ihren Tischnachbarn wieder telefonieren, sagt sie. Aber der direkte Kontakt, "das Zusammensein" gehe ihr schon ab.

Der 1990 gegründete Verein Bürger für Bürger gehört mit inzwischen fast 1500 Mitgliedern und mehr als 200 Helfern zu den größten Nachbarschaftshilfevereinen im Landkreis. Von den insgesamt zehn Ressorts, zu denen auch der Asylhelferkreis und Mutter-Kind-Gruppen gehören, widmen sich drei der Seniorenarbeit, die das größte Angebot umfasst: Neben der Freizeitbörse für Aktive und der Seniorenhilfe, die ältere Menschen im Alltag unterstützt, ist der Seniorentreff ein wichtiger Pfeiler gegen die Isolation im Alter. Er bietet in normalen Jahren gut 250 Veranstaltungen an, zu denen auch Strick-, Musik- und Schachgruppen, Literatur-, Sing- und Gesprächskreise gehören. Geleitet wird er von Peter Schöbel. Der 78-Jährige sei "die gute Seele" des Vereins, sagt Margit Brandes.

Schöbel kam 1994 zu BfB - "aus Zufall", wie er sagt. Seine Frau sei zum Verein gekommen, als er gerade seine Laufbahn als Berufssoldat beendet habe, um in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Da habe er sich überreden lassen, mitzumachen. "Statt wandern zu gehen, bin ich halt in die Seniorenhilfe eingestiegen", sagt Schöbel - und fügt hinzu: "Wenn ich etwas mache, dann richtig." Er erinnert sich, wie sie die ersten Flyer verteilt haben. "Da hieß es: Des brauch' ma hier ned". Doch schon am ersten Adventsnachmittag 1994 hätten 72 Leute teilgenommen, zum Großteil alleinstehende Damen.

Heute sind die kostenlosen Veranstaltungen für viele ältere Bürger zum Anker im Alltag geworden. Finanziert werden sie ausschließlich durch die Mitgliedsbeiträge und Spenden. "Wenn Herr Schöbel und zahlreiche Helfer nicht ihre Aufwandsentschädigung an den Verein zurückspenden würden, wäre das in der Form nicht machbar", sagt die Vereinsvorsitzende Eva-Maria Rühling. Wie wichtig die Treffen sind, weiß sie auch aus zahlreichen Anrufen, die sie während des Lockdowns bekommen hat. "Die Leute fragen: Wann fängt es wieder an? Das ist mein Highlight der Woche." Schöbel fügt hinzu, dass viele lieber das Risiko einer Ansteckung auf sich nehmen würden, als auf ihre gemeinsamen Stunden zu verzichten. Dennoch hätten alle Teilnehmer Verständnis dafür, dass die Lage keine Treffen erlaubt.

Verein Bürger für Bürger

Margit Brandes vermisst ihren Mittagstisch und muss mit Seniorentreff-Leiter Peter Schöbel an der Türschwelle reden.

Arbeit hatten die BfB-Helfer aber auch im Lockdown genug. Der Verein hat die Organisation der Impfung für die Wolfratshauser Senioren in die Hand genommen, Listen erstellt und Shuttle-Fahrten zum Impfzentrum organisiert. Als das bekannt wurde, habe ihr Telefon nicht still gestanden, berichtet Rühling. "Wir haben auch Anrufer aus Starnberg und Weilheim gehabt, die einen Impftermin wollten."

Ohne Unterbrechung geht es in der Seniorenhilfe weiter, von der knapp 100 ältere Bürgerinnen und Bürger in der Stadt profitieren. Die Helfer des Vereins, laut Ressortleiterin Agnes Seiffarth mehr als die Betreuten, gehen für die Senioren einkaufen, unterstützen bei Behördengängen, Arztbesuchen und sind manchmal einfach nur zum Reden da, auch während der Corona-Beschränkungen. Wie wichtig das ist, weiß Maria-Luise Schubert. Die 68-Jährige ist für jeden Schritt auf einen Rollator angewiesen. Sie lebt alleine im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses in der Winibaldstraße ohne Aufzug. Ihre Wohnung kann sie alleine nicht verlassen. Schon vor Corona, kann man sagen, lebte sie im Lockdown.

Zu "Bürger für Bürger" kam sie Anfang 2018. Ihr Mann, der sich zuvor um alles gekümmert hatte, war überraschend am 1. Januar gestorben. Der Verein organisierte die Beerdigung und half ihr in dieser schweren Zeit. Ernst Wieser, Zweiter Vorsitzender bei BfB, kommt nun jeden Donnerstag vorbei, bei Bedarf auch öfter. Er hat Schubert bei der Einstufung in die Pflegestufe II geholfen, ihr Pflegegeld beantragt, er geht zur Post, hat eine Bankvollmacht, um für sie Geld abzuheben und hilft ihr, Kleidung für sie im Internet zu bestellen - auf dem Laptop, den ihr Mann hinterlassen hat. "Ich habe mal Informatik studiert", sagt Wieser. "Das ist schon ein Vorteil." Die zierliche Frau schaut ihm dann über die Schulter und sucht sich auf dem Bildschirm die Dinge aus, die sie haben möchte. Über dem Computertisch hängt die Urkunde, die ihr Mann für 40 Jahre Betriebszugehörigkeit bei Linde bekommen hat.

Schubert hat keine Kinder und auch keine anderen Verwandten in der Stadt, nur eine Schwester in Sonthofen, die sie zweimal im Jahr besuchen kommt. Die drei Zimmer, in denen sie einst mit ihrem Mann lebte, sind ihre ganze Welt. Ihre Kontakte beschränken sich auf die Lieferung des Essens auf Rädern, den Pflegedienst, der sie betreut, und auf Wieser. Alle hätten jetzt eine Maske auf, sagt Schubert. "Aber daran habe ich mich gewöhnt." Sie selbst trägt keine, weil sie sonst kaum Luft bekommen würde. Weil sie die Wohnung so gut wie nie verlässt, ist sie noch nicht geimpft, will das aber nun nachholen. Wenn Wieser nicht mehr käme, sagt sie, wäre das "eine Katastrophe". Nicht nur weil sie Hilfe im Alltag braucht, sondern auch, weil ihr Gespräche guttun.

Im Verein achtet Ressortleiterin Seiffarth darauf, dass die Betreuer zu den Senioren passen. Es gebe ein Erstgespräch, die Chemie müsse stimmen, sagt sie. Bei Schubert und Wieser hat das geklappt. "Wir sind beide Schwaben", sagt der Betreuer. "Sie kommt zwar aus dem Allgäu und ich aus Mittelschwaben, aber wir können miteinander im Dialekt sprechen." Schubert nickt: "Manches kann ich halt nicht auf Hochdeutsch sagen." Im kommenden Jahr will der Verein den Seniorinnen und Senioren nach langer Entbehrung etwas Besonderes bieten: gemeinsame Ausflüge mit dem Bus. Diese würden immer wieder gewünscht, scheiterten aber an den Finanzen des Vereins und der Senioren, deren Rente oft schmal sei, sagt Rühling. Vier Fahrten soll es geben, wenn es die Pandemie wieder zulässt - nach Salzburg oder in den Botanischen Garten, mit Mittagessen und Kaffee. "Die Menschen sollen einfach mal rauskommen und einen schönen Tag haben", sagt Rühling. Eine fünfte Fahrt soll, in Kombination mit Pflegediensten, allein für pflegende Angehörige stattfinden. Viele von ihnen opferten sich auf und hätten kaum mehr Zeit für sich, weiß Rühling. "Dann kommen sie auch mal raus und können sich miteinander austauschen."

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