Sylvensteinspeicher:Mit dem Wasser schwindet der Mythos

Das kommt davon, wenn man einen Stausee nach Jahrzehnten ablässt: Man kann bestimmten Sachen mal so richtig auf den Grund gehen.

Von Klaus Schieder, Lenggries

Es war am 22. Mai 1959, als das alte Dorf Fall endgültig in den Fluten des neu angelegten Sylvensteinspeichers unterging. An diesem Tag wurde mit dem alten Beamtenhaus das letzte Gebäude in die Luft gesprengt, einen Monat zuvor hatte darin noch der Forstarbeiter Todeschini gewohnt, den man nach einem Starkregen zwangsweise aus dem Obergeschoss herausholen musste.

Der Mythos von der Kirchturmspitze

Aus dem alten Fall wurde das versunkene Dorf, um das sich seither manche Mythen ranken. Eine davon besagt, bei Niedrigwasser sehe man die Kirchturmspitze aus dem Wasser ragen. Eine hübsche Legende, an der aber nichts dran ist. Das ist derzeit leicht nachzuprüfen. Der Wasserspiegel des Stausees wurde wegen einer Revision des Grundauslassstollens abgesenkt, vom früheren Dorf tauchen die Grundmauern der Häuser wieder auf.

"Wir sind alle stets versucht, klangvolle, farbenfrohe Geschichten aus den Fakten zu entwickeln", sagt Stephan Bammer, Heimatforscher, Buchautor und Gemeinderat in Lenggries. Zum Beispiel jene, damals sei ein ganzes Dorf in den Fluten versunken. In Wirklichkeit war davon schon nichts mehr übrig, als das Wasser kam. Die Häuser des damaligen Fall, das aus Unterdorf, Mitteldorf und Oberdorf bestand, wurden vor der Überflutung abgerissen - zunächst die tiefer, dann die höher gelegenen Teile. Auch die Kapelle wurde dabei dem Erdboden gleichgemacht.

Sylvensteinspeicher: Das Beamtenhaus wurde 1959 als letztes Gebäude geräumt.

Das Beamtenhaus wurde 1959 als letztes Gebäude geräumt.

(Foto: A. Böhm)

Damals habe es einen Bauzeitenplan gegeben, "in dem genau festgelegt war, dass natürlich erst Neu-Fall errichtet sein musste, bevor Fall abgerissen werden konnte". Häuser, Stadel, Feldkreuze, Waldbahn, Straßen - alles verschwand peu à peu. Zuletzt seien im Oberdorf zwei alte Bauernhöfe und das Kirchlein gestanden, so Bammer. Und ganz zum Schluss eben das alte Beamtenhaus.

Elf Jahre, dann kam das Wasser

Das Ende des Dorfs war besiegelt, als 1948 beschlossen wurde, den Rissbach in den Walchensee umzuleiten, damit das Walchenseekraftwerk mehr Energie erzeugen konnte. Dies hatte zur Folge, dass die Isar, in die der Rissbach floss, von Vorderriss an kaum mehr Wasser führte. Die Lösung sollte der Sylvensteindamm bringen, der das Isartal oberhalb der Faller Klamm abriegelt.

Der Bayerische Landtag billigte das 61 Millionen Mark teure Projekt im Januar 1954. Noch im Mai begannen die Arbeiten, die flott vonstatten gingen: Grundablassstollen, Triebwasserstollen, Dichtungsschürze, das Kavernenkraftwerk. Außerdem entstand zwischen 1955 und 1957 die lange Sylvensteinbrücke. 1959 war alles fertig.

Schauplatz eines Romans, aber nur bedingt romantisch

Das Dorf, das einst der Schauplatz des Romans "Jäger von Fall" von Ludwig Ganghofer war, stand dem Großprojekt im Wege. In den Fünfzigerjahren lebten dort vor allem Forstbedienstete und Zollbeamte. Einer von ihnen war der Forstmeister Anton Böhm, der zwei Bücher über das Schicksal von Alt-Fall schrieb. Seinen Schilderungen zufolge war die Stimmung unter den Bewohnern schlecht. Sie fürchteten, nach Lenggries umgesiedelt zu werden oder weit höhere Mieten in Neu-Fall bezahlen zu müssen.

Luftbild Sylvensteinspeicher

Land statt Wasser: der abgelassene Sylvensteinspeicher.

(Foto: Manfred Neubauer)

Bammer kann dies so nicht bestätigen. Er habe mit etlichen Alt-Fallern gesprochen, die seinerzeit junge Erwachsene waren: "Sie waren froh, aus den alten Häusern herauszukommen." Abgesehen von der schlechten Bausubstanz hätten in diesen Anwesen unerträgliche hygienische Zustände geherrscht, in einigen habe es nicht mal ein Klo gegeben. Nein, sagt Bammer, die Bewohner hätten die Neubauten als "vergleichsweise schöne Häuser" betrachtet. Worin er mit Böhm übereinstimmt: Auch die neuen Gebäude waren nicht gerade Vorzeigeobjekte solider Baukunst. Sie wurden schnell hingestellt.

Der letzte Einwohner und seine Rettung

Umziehen durften ohnehin nur die Forstangestellten und Zollbeamten, die sich im Dienst befanden. "Das war ja damals das größte Forstamt von Bayern", sagt Bammer. Nicht alle lebten in Fall, viele pendelten. Der Forstarbeiter Todeschini hatte Pech. Weil er sich bereits im Ruhestand befand, bekam er keine Adresse in Neu-Fall, sondern sollte sich etwas suchen. "Der Staat war damals schon ziemlich selbstherrlich", sagt Bammer. Allerdings soll dem Arbeiter ein Haus in Lenggries angeboten worden sein, bis zur Fertigstellung wollte Todeschini jedoch nicht in einem Barackenlager leben.

Darum sinkt der Wasserspiegel

Normalerweise liegt der Wasserspiegel des Sylvensteinspeichers im Winter bei gut 752 Metern über dem Meeresspiegel, derzeit sinkt der Pegel gegen 737 Meter - 15 Meter weniger als zu dieser Jahreszeit üblich. Der See schrumpft darum von mehr als 40 Millionen Kubikmeter Wasser auf nur noch fünf Millionen Kubikmeter. Das war zuletzt im Jahr 1999 der Fall.

Der Grund lag damals wie heute an Arbeiten des Wasserwirtschaftsamts Weilheim. Der Sylvensteinspeicher soll das Wasser der Isar und der Nebenflüsse stauen und kontrolliert abgeben, um das Isartal bis nach München vor Hochwasser zu schützen. Dazu verfügt der Speichersee über zwei Abflüsse - den Triebwasserstollen und den Grundablass, die regelmäßig kontrolliert und saniert werden müssen. 1999 wurde der Triebwasserstollen inspiziert, jetzt ist der Grundablass an der Reihe. Das gelingt nur bei niedrigem Wasserstand.

Dafür muss der Revisionsverschluss eingesetzt werden - eine 21 Tonnen schwere Stahlplatte, die den Einlauf in den Stollen blockiert. Das geschieht von Dienstag, 19.30 Uhr, auf Mittwoch, 6.30 Uhr. Dafür wird ein sehr großer Kran benötigt, der die volle Breite der B307 einnimmt. Die Zufahrt von Lenggries nach Fall wird dann nicht möglich sein. Die B13 ist nur für den Transport gegen 20.30 Uhr für bis zu 20 Minuten gesperrt. sz

"Der gute Mann war wohl ein bisschen störrisch", meint Bammer. Jedenfalls war Todeschini der Letzte, der das alte Fall verließ. Zwangsweise. Nach einem Starkregen am 19. April 1959 stand das Erdgeschoss schon unter Wasser, als man ihn aus dem oberen Stockwerk rettete. Danach sprengten Bundeswehr-Pioniere das Beamtenhaus.

Wo wirklich ein Kirchturm aus dem Wasser ragt

Bammer zufolge tauchen die Reste von Alt-Fall nun nicht zum ersten Mal wieder aus dem See auf. Er habe Aufnahmen von Ende der Neunzigerjahre, als dies schon einmal geschah, sagt der Gemeinderat und Heimatforscher. Aber was lange verborgen ist, beflügelt eben die Fantasie. "Es gibt viele Geschichten, die falsch sind, aber immer wiedergegeben werden." Zu diesen Mythen gehöre der Kirchturm.

Ein kleines Gotteshaus, das wie verwunschen unter Wasser liegt, gibt es indes tatsächlich. Allerdings im Dorf Graun im Vinschgau in Südtirol, das im Reschensee unterging. Dort wurde der Kirchturm stehen gelassen, weil er unter Denkmalschutz stand. Er ragt malerisch aus dem Wasser.

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