"Stell dir vor, wir hätten was zu rauchen":Eine sentimentale Reise

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Julia von Miller singt facettenreich, Anatol Regnier fesselt als Erzähler und Rezitator. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Julia von Miller, Anatol Regnier und Frederic Hollay lassen Nachkriegszeit und Fünfziger musikalisch aufleben. Mal ernst, mal heiter, immer mitsingbar

Von Barbara Szymanski, Münsing

Eigentlich könnte man an diesem Abend mitsingen. Zumindest die Refrains der Songs hätte man doch drauf. "Sentimental Journey" zum Beispiel, den Swing-Titel, den Doris Day in den Vierzigerjahren so zauberhaft gurrte. Julia von Miller moduliert diesen Song ein wenig rauchiger, selbstbewusster und mit mehr Kraft in der Stimme. Der Gitarrist, Sänger und Autor Anatol Regnier lächelt, wie er immer lächelt, wenn so innig und facettenreich gesungen wird, und Frederic Hollay schaut nicht auf die Tasten des E-Pianos, sondern zur Sängerin hin. Umrahmt den Vortrag oder stellt kesse Arabesken in den Raum, ohne zu dominieren. Die Zuhörer im Saal des "Pinocchio" in Münsing lächeln auch. Lippen bewegen sich, Blicke werden getauscht: Kennen wir doch.

Gleichwohl beginnt das Programm "Stell dir vor, wir hätten was zu rauchen" mit einer Collage der Fünfzigerjahre des erfolgreichen Trios aus Münsing und München so gar nicht heiter. Regnier spricht von einem "Protokoll einer dramatischen Zeit", nämlich der, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, die zwischen Scham, Verdrängen, Hoffnungen und Sehnsucht nach einem Neubeginn changierte. Es tut immer wieder weh, die Zahlen der Toten, Gefangenen, Vermissten und Geflüchteten zu hören. Da mag "das süße Gefühl der Freiheit" noch so sehr locken oder der Jazz betörend samtig die Körper durchfluten. Die Schuld, die sich das deutsche Volk aufgeladen hat, "ist unvorstellbar", sagt Regnier mit seiner rauen Stimme. Dafür sei kein Lied gefunden worden, deshalb "I'm sorry", der sentimentale Song, den Brenda Lee in den Sechzigern an die Spitze der US-Charts brachte und der auch hierzulande oft aus den Kofferradios drang. Julia von Miller jubelt dieses Lied ohne Sentimentalität fast so triumphierend wie eine Hymne. "Oh Susanna", eigentlich ein Gassenhauer, verwandelt Regnier mit seinem Sprechgesang mit Kratzaroma in ein zeitkritisches Lied. Der Pianist windet derweil klangliche Girlanden, nicht nur um diesen Liedvortrag. So merkt man kaum, dass Regnier zwar ein richtig guter Gitarrespieler und fesselnder Rezitator ist, aber kein Sänger.

Wer kann sich noch an Trude Herr erinnern? Die rundliche Sängerin mit der trompetengleichen Stimme. Für Julia von Miller keine wirkliche Herausforderung, sondern, wie man ihr deutlich anmerkt, ein Riesenspaß: "Ham se nich, ham se nich 'n Mann für mich". Nur mit Mühe kann sich vermutlich so mancher Zuhörer zurückhalten, um nicht den Refrain mitzuträllern. Regnier trägt danach Schlagworte vor wie "Uns geht's ja noch Gold" des Schriftstellers Walter Kempowski oder das für den Karneval in Köln gedachte Lied "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien", den drei Zonen, in welche die Alliierten Deutschland aufteilten.

Nach der Pause beginnt das Wirtschaftswunder mit dem gleichnamigen Song, an dem einst der Kabarettist Wolfgang Neuss mitwirkte und der heute noch aktuell erscheint. Auch dieses Lied liegt einigen Zuhörern schon fast auf den Lippen. Doch lauschen ist besser, weil das Trio so mitreißend, so frisch, gut gelaunt und unverblümt unterhält. Da wird geschmettert, was das Zeug hält. Schließlich sind "Die Beine von Dolores" nun wirklich klasse, wie Julia von Miller beweist, wozu sie eine gut ausbalancierte Choreografie darbietet. Dafür gibt es einen besonders kräftigen Applaus und dezente Pfiffe der Anerkennung.

Und auch das ist unvergessen: Die Moderation des Radio-Reporters Herbert Zimmermann, dessen Stimme fast brach beim legendären Weltmeisterschaftsspiel Deutschland-Ungarn. "Das Spiel ist aus, aus", krächzte er mit letzter Kraft. Regnier erweist sich als glänzender Imitator, und so mancher männliche Zuhörer scharrt aufgeregt mit den Füßen. Die bleiben eher still bei Anekdoten über Konrad Adenauer. Nicht die üblichen Zitate über das eigene "Geschwätz von gestern", sondern unbekannte Schmankerl hat Regnier ausgegraben. Adenauer entwickelte das Schrotbrot oder ein beleuchtetes Stopfei für die ambitionierte, sparsame deutsche Hausfrau. Richtig komisch auch die Erzählungen und Lieder über das Campen oder Elvis Presley und sein soldatisches Verweilen hierzulande. Damals berichteten die deutschen Medien minutiös über dieses Großereignis. Über Elvis' Halsentzündung oder dass er beim Roten Kreuz Blut spendete. Das trägt Regnier bierernst und so bedeutungsschwanger vor, dass man sich lautes Auflachen verkneifen muss.

Einfach nur gut und entspannend dieser Teil der Nachkriegsrevue mit echt Kölnisch Wasser, Martini ab Mittag, Frauengold, Kaiserin Soraya, Rosemarie Nitribitt, dem russischen Sputnik im Orbit oder der "segensreichen" Eröffnung der Flensburger Verkehrssünderkartei. Und wie war das nun mit dem Titel des Abends und dem Rauchen? Na ja, damals schnippten GIs ihre Kippen, achtlos vermutlich, einfach so auf Straßen und Gehwege. Und der Deutsche bückte sich danach: irgendwie symbolisch.

© SZ vom 18.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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