Süddeutsche Zeitung

Im Porträt:"Ich bleibe, weil man einen Kranken nicht allein lässt"

Stefan Scheifele hat als Militärpfarrer die Bundeswehr in Berlin und Nato-Truppen in Neapel betreut, sowie Einsätze in den Kosovo begleitet. Seit nun mehr als einem Jahr ist er für den Pfarrverband Schäftlarn zuständig und muss weiterhin Krisen meistern.

Von Veronika Ellecosta, Schäftlarn

Pfarrer Stefan Scheifele kennt den Krieg. Er ist ihm zum ersten Mal in Berlin und Brandenburg begegnet, wo er in den frühen Zweitausendern Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr als Seelsorger betreute. Er ist ihm in Neapel begegnet, von dort aus flog er zu Nato-Truppen von Lissabon bis Kreta. "Meine Pfarrei hatte drei Zeitzonen", erinnert er sich. Und er ist ihm im Kosovo begegnet, als das deutsche Militär den Waffenstillstand sichern sollte. Der Pfarrer weiß, was Krieg mit den Menschen macht, und als Supervisor auch, wie Menschen Krisen begegnen. "Ich kann Krise", habe er einmal im Gespräch mit einer Zeitung gesagt, erzählt er. Dabei könne er auch noch anderes. Stefan Scheifele sitzt im Pfarramt in Baierbrunn, trägt eine Brille mit dickem schwarzen Gestell und ein schwarzes Hemd, die Beine überkreuzt. Seit eineinhalb Jahren betreut er den Pfarrverband Schäftlarn, aber die Krisen hören gerade nicht auf.

Über die Seelsorge beim Heer sagt Pfarrer Scheifele: Wenn jemand den Militärpfarrer aufsucht, dann meistes mit Fragen, für die die Ärztin oder der Psychotherapeut nicht zuständig sind. Die müssen nicht mal religiöser Natur sein. Denn in seiner Laufbahn habe er oft mit nicht gläubigen Soldaten und Soldatinnen zu tun gehabt, besonders in Berlin und Brandenburg nach der Wende. Stefan Scheifele nennt sie die "Naturbelassenen". "Atheismus setzt voraus, dass ich mich bewusst entschieden habe. Die Menschen in Ostberlin haben sich oft nicht mit dem Glauben auseinandergesetzt." Was nach dem Tod kommt, fragten sich aber viele, die Gläubigen und die Naturbelassenen. Denn das Sterben sei eben zentral in einem Beruf, wo Entscheidungen Leben kosten können. Das eigene oder das eines anderen.

Stefan Scheifele kennt auch die Fragen nach dem Warum, sobald Soldaten sterben. Er habe als Militärpfarrer Kommandeure beim Überbringen der Todesnachricht begleitet, erzählt er. Seine Aufgabe war es, dann bei den Angehörigen zu bleiben: "Das nicht Sagbare aushalten. Denn für manches gibt es einfach keine Worte." Und dann: Anstatt nach dem Warum nach dem Wozu zu fragen. Denn das Warum sei meistens unerklärbar, Trauernde verhaften dadurch in der Vergangenheit und dem Unveränderbaren. Das lernt man wohl auch im Krieg. Stefan Scheifele will den Trauernden aufzeigen, wo ein Weg, wo Zukunft ist. "Heilung bedeutet nicht, dass etwas ungeschehen wird, aber dass ich es schaffe, damit zu leben", sagt er.

Wenn Stefan Scheifele über Krisen spricht, gestikuliert er kaum. Das Isartal vor seinem Fenster nennt er den Vorort des Paradieses - und, wie um ihm rechtzugeben, tollen draußen ein Hund und sein Herrchen über den frisch gefallenen Schnee. Aber auch dort, im Vorort des Paradieses, gibt es Risse.

Einer dieser Risse war das S-Bahn-Unglück in Ebenhausen. Da war Pfarrer Scheifele gerade mal ein halbes Jahr hier. "Es war ein großer Schreck für die Kommune", erinnert er sich. Und fügt hinzu, wie sehr er über die professionelle Ruhe, mit der Einsatzkräfte und Menschen an Ort und Stelle Hilfe leisteten, staunte. Danach sei das Bedürfnis nach Zusammenkunft groß gewesen, auch für jene, die nicht in die Kirche gehen. "Es gab einen schönen ökumenischen Gottesdienst. Auch Leute von der Deutschen Bahn waren da." Als besonders beschreibt er die Stille nach dem lauten Knall, als die beiden S-Bahnen zusammenkrachten, diese Lücke in der Zeit. Danach war alles laut, die Hubschrauber, wie im Krieg, sagt er.

Sein erstes Jahr im Pfarrverband war nicht einfach, nicht für Schäftlarn, aber auch nicht für die Welt drumherum. Kurz nach dem Zusammenprall in Ebenhausen marschierten Putins Truppen in die Ukraine ein. Er werde nie vergessen, wie die ersten Geflüchteten in Schäftlarn ankamen. "Die Menschen nahmen die Ukrainerinnen und Kinder in Empfang. Es ging aber nicht um die Sprachbarriere, sondern, dass wir alle das Schweigen aushielten."

Der Krieg sei an den Schäftlarnerinnen und Schäftlarnern nicht spurlos vorübergegangen. Die Älteren seien an die Bombardierungen im Weltkrieg erinnert worden, Traumata brachen auf. Viele hätten deshalb die Seelsorge der Kirche in Anspruch genommen. Im Pastoral wird zwischen Gehen und Kommen unterschieden, erklärt Scheifele: Menschen können selbst den Seelsorger aufsuchen oder der Seelsorger kommt zu den Menschen. Und Pfarrer Scheifele versuchte, zu den Menschen zu kommen, mal eben beim Bäcker ein Gespräch zu eröffnen, als der neue Pfarrer. Das war nicht einfach, am Anfang auch wegen Corona. "Die Leute hatten mein Bild in der Zeitung gesehen. Mit Maske erkannten sie mich aber oft nicht."

Als Seelsorger beobachte er, dass die Menschen über die derzeitigen Krisen nicht gerne sprechen. "Viele wollen ihre heile Welt wieder zurück, sie sind satt von den Krisen." Die Gesellschaft sei instabil geworden und er versuche, Stabilität zu geben. "Kein falscher Trost, aber Vertrauen." Das gelte auch für Zukunftsängste. "Wir müssen die Ängste anschauen. Und uns dann fragen, was wir damit machen können." Ihm helfe ein Satz, den Johannes Paul II. einst sagte: "Non abbiate paura" - "Habt keine Angst". Es sei auch sein letztes Wort auf dem Sterbebett gewesen.

Dabei leidet die katholische Kirche an ihrer hauseigenen Krise. Die Menschen zu erreichen, ist für die Geistlichen schwieriger denn je. In Schäftlarn wie bundesweit sind der Missbrauchsskandal und die mangelnde Aufarbeitung der Motor für Kirchensautritte. Er habe persönliche Briefe geschrieben und zum Gespräch eingeladen, erzählt Scheifele, und auch Reaktionen erhalten. "Die Beweggründe für die Austritte sind tiefe Verletzung und Enttäuschung. Auch ich bin verletzt und enttäuscht", sagt der Pfarrer. Er spricht leise, wieder reduziert er die Handbewegungen. "Die deutsche Kirche ist krank. Aber ich bleibe, weil man einen Kranken nicht allein lässt." Also bleibt Stefan Scheifele. In seiner Kirche und in Schäftlarn.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5741205
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/veca
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.