Süddeutsche Zeitung

Serie "Unikate":Schlicht raffiniert

Anne Becker schmiedet klare Schmuckstücke, die Pfiff und Seele haben. Dabei überrascht sie sich immer wieder selbst

Von Stephanie Schwaderer

Gold und Silber müssen nicht starr sein, sie können fließen wie der "Blubberring", ein Geschmeide aus Kringeln, das sich über alle Finger ergießt. "Ich mag es, wenn sich was bewegt", sagt Anne Becker und greift wieder in die Schmuckschachtel. "Hier der Klappring, der lässt sich auch als Anhänger tragen. Oder da, die Quadratur des Kreises." Durch einen eckigen Rahmen aus Weißgold dreht sich ein goldener Ring, in dem Diamanten funkeln. Eine klare und zugleich verspielte Arbeit - typisch für Anne Becker. Viele ihrer Schmuckstücke wirken organisch und strahlen eine Selbstverständlichkeit aus, als seien sie draußen im Garten gewachsen. "Schmuck darf nicht kompliziert sein", sagt sie, "das Leben ist schon kompliziert genug."

Vor 13 Jahren ist die Goldschmiedin mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen wieder in ihr Beuerberger Elternhaus gezogen. Das alte Flößerhaus liegt an jenem magischen Eck steil unterhalb des Pfarrhügels, wo die Loisach sich in einen mäandernden Fluss und den Waldramer Kanal aufspaltet. An diesem Morgen ist alles dick mit Nebel verhangen. Das Wasser zieht träge wie Blei vorbei. Kann sie die Schönheit des Ortes noch genießen? "Jeden Tag!"

"In eine andere Dimension"

Punkt 8 Uhr sitzt Anne Becker morgens in ihrer Werkstatt. Die liegt zwischen Küche und Wohnzimmer und bildet das Herzstück des urigen Hauses. Auf der Arbeitsplatte, auf der sie gerade ihre Kreationen präsentiert, habe sie jüngst den Staubsauger repariert ("Das ist das Tolle, wenn man so eine Werkstatt hat") und einer Nachbarin die Fäden gezogen: "Da braucht man eine ruhige Hand." Ansonsten genieße sie vor allem die Ruhe, die diesen Raum erfüllt. Der Blick aus dem Fenster endet nach einem halben Meter. "Du schaust in den Berg rein", sagt sie. "Und drüber sind die Toten begraben." Sie mag diesen Gedanken. Er helfe ihr, sich zu konzentrieren. Konzentration wiederum sei die Basis ihrer Arbeit. "Da tauche ich in eine andere Dimension ein."

Von außen betrachtet, spielt sich ein Großteil des Geschehens auf gerade einmal zehn Quadratzentimetern ab. So klein ist der Feilnagel, ein Holzstück, das der Goldschmiedin als Arbeitsunterlage dient. Darunter hängt das Fell, das selbst feinsten Goldstaub auffängt. In Griffweite befinden sich Zangen und Feilen, Pinzetten und Hämmerchen. Aber auch große, schwere Maschinen stehen im Raum, darunter ein pechschwarzer Amboss.

Zuletzt hat Becker runde Goldplättchen aus einem Blech geschlagen und mittig zerteilt, nun werden sie an ein winziges Scharnierrohr gelötet. "Das ist jetzt eher etwas Grobes", sagt sie, und greift mit einer Pinzette das nächste Bröselchen Lot, das mit bloßem Auge gerade noch zu erkennen ist.

Die Scharnierstange wird sie später zersägen und jedes Element beizen, feilen und schmirgeln. Dann werden die Plättchen auf eine Schnur geknotet. Knapp einen halben Meter misst ein Collier. "Man muss schon wahnsinnig fleißig sein", sagt sie. "Aber es lohnt sich." In ihre "Luftschlangenkette" aus geschmiedeten Spiralen hat sie 30 Stunden Kraft und Konzentration gesteckt. "Die waren es wert."

Eine treibende Kraft sei für sie noch immer die Neugierde. "Das ist so spannend! Erst wenn ein Stück fertig ist, weiß ich, ob es gut ist, ob es eine Seele hat." In ihren Ketten arbeitet sie oft mit seriellen Elementen, so wie gerade mit den Goldplättchen, die sie in Größe und Oberflächenstruktur variiert. Durch die Aneinanderreihung von Gleichem entsteht in ihren Händen Außergewöhnliches. Schlichtes kommt äußerst raffiniert daher. So wie die "Stäbchenkette", die sich nach dem Tragen Stück für Stück zusammenlegen lässt. "Da kann man sich wieder sammeln."

Einen Laden hat sie nie gehabt. Nach ihrer Ausbildung an der staatlichen Berufsfachschule für Glas und Schmuck in Neugablonz habe sie noch einige Jahre beim Essen gespart und "alles ins Gold gesteckt", erzählt sie. Zudem habe sie Ausstellungen besucht und fleißig Adressen gesammelt. Seit elf Jahren ist sie nun selbst eine geschätzte Gastgeberin, die im Sommer zu sich nach Hause einlädt und immer auch andere Kunsthandwerker dazu holt, die ihre Arbeiten präsentieren. "Ich liebe das, weil es so real ist." Dass Beruf und Privatleben seit jeher Hand in Hand gehen müssen, habe sie nie gestört. "Mittags habe ich ja auch Hunger, also koche ich etwas." Kinder und Geschäft seien gleichzeitig gewachsen. "Und jetzt sind alle groß."

Ein Sparschwein für Becker-Geschmeide

Ihre Stammkunden kommen bis aus Österreich und der Schweiz. "Manche haben ein Sparschwein daheim, auf dem Anne Becker steht", erzählt sie und lacht. Auch wer nur 60 Euro erübrigen könne, solle bei ihr etwas Schönes bekommen. "Man kann aber auch 60 000 ausgeben." Alle Stücke, die sie fertigt, sind zunächst Unikate. "Ich mache nur das, was mir gefällt." Aus den besten Ideen entwickelt sie kleine Serien. Der Goldpreis - sie verwendet ausschließlich recyceltes Material - ist zuletzt in die Höhe geschossen. Ein Silberring mit Perle für 95 Euro kostet in der Goldvariante gerade 630 Euro.

Manche Formen tauchen immer wieder auf, etwa die 8 - "weil sie wahnsinnig schön ist" - oder die Blümchen-Kette. "Die mache ich seit meiner Ausbildung in Neugablonz", sagt Becker, "nein, eigentlich seit meiner Kindheit." Was sich geändert hat, ist das Material. Der Prototyp war aus Gänseblümchen.

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Quelle:
SZ vom 26.11.2020
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