Die Johanneskirche in Bad Tölz ist typisch für viele evangelische Kirchen im Oberland. Klein und bescheiden ist sie, ohne üppigen Schmuck im Innenraum, wenngleich nicht ganz ohne Kunst. Ein Unternehmer stiftete im Jahr 1901 ein wertvolles Altarbild, das Gemälde "Die Kreuzigung" von Lovis Corinth. Eingeengt zwischen dem Spaßbad Alpamare und dessen Rutschen sowie einem ehemaligen Kur-Komplex könnte man die Kirche beim Vorbeifahren glatt übersehen. Dennoch hat sie eine besondere Stellung. Sie ist die älteste evangelische Kirche im Oberland, obwohl erst lange nach der Reformation eingeweiht, im Jahr 1880, als Kur und Tourismus ihren Aufschwung nahmen.
Luthers Lehren hatten im 16. Jahrhundert zwar auch den Alpenrand erreicht, weil wandernde Handwerksburschen und Kaufleute die Neuigkeiten mitbrachten. Die ersten Anhänger waren jedoch gut beraten, sich im Verborgenen zu treffen. Sie organisierten Bibelkreise, verächtlich Winkelschulen genannt, und lasen dort die Heilige Schrift. Allein schon der Besitz protestantischer Schriften war genug, um verhaftet zu werden. Viel ist nicht dokumentiert über das frühere Leben der Protestanten im Isarwinkel, die sich trauten, alte Traditionen zu kritisieren.
Johann Max Raeder hat ein paar Bücher auf dem Tisch in seiner Stube bereit gelegt. Der ehemalige Geretsrieder Pfarrer, der seit Beginn seines Ruhestands 2005 in Lenggries lebt, sammelte Quellenmaterial, als er vor einiger Zeit über die örtliche Kirchengeschichte recherchierte. "Überall findet man ein bisschen etwas", sagt er. So hat er von Bartlme Däxner gelesen, einem Bauern, vermutlich aus Gaißach, bei dem im Jahr 1578 eine lutherische Bibel und "andere sektische Bücher" entdeckt wurden. Der Tölzer Rechtspfleger ließ sie ihm wegnehmen, Däxner musste Strafe in unbekannter Höhe zahlen. Was aus ihm wurde, ist nicht bekannt. Möglicherweise hat er Tölz verlassen. Wem es zu gefährlich wurde, seinen lutherischen Glauben zu leben, der rettete sich damals üblicherweise nach Tirol oder Regensburg, die als evangelische Hochburgen bekannt waren.
Die Zahl der Protestanten dürfte damals nie sehr hoch gewesen sein in Tölz und Umgebung. Im Mai des Jahres 1570 lebten laut einem Bericht an den Tölzer Pfleger nur drei Personen in Tölz und den beiden Filialen Fischbach und Wackersberg nicht nach katholischem Brauch - von 1840 Pfarrkindern insgesamt. Das hat Hans Rößler in seinem Band "Geschichte und Strukturen der evangelischen Bewegung im Bistum Freising" aufgeschrieben. Die drei sind auch benannt: Alexander Götschl, Gabriel Heygl und dessen Frau Apollonia. Das Ehepaar hatte in Rosenheim das protestantische Abendmahl gefeiert. Als im Jahr 1576 Apollonia Heygl ein Ultimatum gestellt wurde, bis Allerheiligen zum katholischen Glauben zurückzukehren, entging sie ihrer Verhaftung durch die Flucht aus Tölz. Ihr Mann war damals schon gestorben. Gabriel Heygl stammte aus einer angesehenen Familie, der das Weinhaus mit dem späteren Namen Höckh gehörte. Er war bis 1533 Richter und viele Jahre Bürgermeister des Marktes Tölz. Im Stadtarchiv ist über ihn jedoch kaum etwas zu finden. In der Jubiläumsschrift zu "100 Jahre evangelische Kirche in Bad Tölz" dagegen heißt es, Heygl habe wohl sein Ansehen vor der Verfolgung bewahrt. Alexander Götschl musste sich schon 1569 in einem herzoglichen Religionsverhör in München verantworten. Einige Jahre früher hatte vermutlich ein Verwandter der Heygls, Hans Heygl, seine Pfarrstelle verloren, weil er sich zur neuen Lehre bekannt hatte. Er wurde verhaftet und musste das Land verlassen.
Dem katholischen Bistum Freising, zu dem Tölz gehörte, war jeder einzelne Abtrünnige ein Dorn im Auge. Es veranlasste penible Kontrollen, allerorten herrschte Misstrauen. Bei einer groß angelegten Visitation im Jahr 1560 wurden Aufpasser durchs Land geschickt, die selbst im Privatleben sämtlicher Priester im Bistum schnüffelten und deren Amtsführung genau unter die Lupe nahmen. Lebenswandel und Loyalität wurden aufgeschrieben. Dass manche Geistliche mit Frau und Kindern lebten oder theologische Ausfälle zeigten, schien weniger zu stören. Wichtiger war offenbar, dass ein Pfarrer wie beispielsweise der Tölzer Petrus Temel sonntags und feiertags aus katholischen Büchern predigte. Oder dass bei seinem Kollegen Christofferus Lederer "kein verdächtiges Buch" gefunden wurde.
In Miesbach dagegen entwickelte sich die Reformation ganz anders. Kaum eine Tagesreise entfernt von Tölz und der protestanten-feindlichen Stimmung dort, wurde die Stadt unter der Herrschaft der Grafen zu Maxlrain zu einer evangelischen Hochburg. Nachdem schon eine Visitation im Jahr 1560 ergeben hatte, dass in der Pfarrei Parsberg mit dem Markt Miesbach zahlreiche Protestanten lebten, bekannte sich auch Wolf Dietrich von Maxlrain, der Reichsherr von Waldeck, drei Jahre später auf dem Landtag zu Ingolstadt offiziell zur Lehre Luthers. "Religionszugehörigkeit hatte damals höchst politische Bedeutung", sagt Alexander Langheiter, Miesbacher Historiker und Stadtchronist. Das Bekenntnis zur neuen Lehre habe die unabhängige Position gegenüber dem katholischen, bayerischen Herzog deutlich machen sollen. Herzog Wilhelm V. machte das nicht mit und setzte nach 21 Jahren eine Handelssperre durch, um die Miesbacher zur Rückkehr zum katholischen Glauben zu zwingen. "Wer nicht katholisch werden wollte, wurde zur Emigration nach Tirol oder Regensburg gezwungen", berichtet Langheiter. Wolf Dietrich von Maxlrain gab schließlich nach, und viele seiner Untertanen wechselten die Konfession. Einige unterwarfen sich, andere verkauften ihre Häuser und verließen Miesbach. "Man muss sich das dramatisch vorstellen", sagt Langheiter, es sei ein Gang ins Ungewisse gewesen. Vermutlich war die Stadtpfarrkirche damals vorübergehend protestantisch, möglicherweise hatten die Protestanten auch ihren eigenen Friedhof außerhalb der Stadt am Waldrand. Zur Besiegelung der Rekatholisierung wurde der Pfarrsitz von Parsberg nach Miesbach verlegt.
Die meisten Dokumente aus dieser Zeit sind beim Stadtbrand 1783 zerstört worden. Langheiter hat wenigstens ein Relikt aus der Reformationszeit ausfindig gemacht. Er ist sich ziemlich sicher, dass ein Grabstein an der Außenwand der Stadtpfarrkirche der eines protestantischen Bürgers ist. Anhand der Wappen auf dem stark verwitterten Stein hat er nachvollzogen, dass es sich um Ambros Murnauer handeln muss, Richter und Protestant im Dienste des Wolf Dietrich von Maxlrain. Von dem ist trotz seiner geschichtlichen Bedeutung übrigens weder Bild noch Stein überliefert. Langheiter hat eine banale Erklärung dafür: "Möglicherweise war er der Sonderling der Familie, an den man sich nicht so gerne erinnern wollte."
Am Montag: Im 17. Jahrhundert fand der Dreißigjährige Krieg im Dachauer Moos sein Ende