Seniorenpolitisches Gesamtkonzept:"Es besteht Bedarf an allem"

Seniorenpolitisches Gesamtkonzept: Personalmangel prägt die Situation in der Altenpflege - dies zeigt auch die Fortschreibung 2022 des Seniorenpolitischen Gesamtkonzepts im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. 85 stationäre Pflegeplätze können derzeit nicht besetzt werden.

Personalmangel prägt die Situation in der Altenpflege - dies zeigt auch die Fortschreibung 2022 des Seniorenpolitischen Gesamtkonzepts im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. 85 stationäre Pflegeplätze können derzeit nicht besetzt werden.

(Foto: Angelika Bardehle)

Die Zahl der Menschen im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen, die 60 Jahre und älter sind, steigt bis zum Jahr 2040 von derzeit gut 36 000 auf 46 000 - und damit auch die Zahl der Pflegedürftigen. Zugleich herrscht nach wie vor ein großer Mangel an Fachkräften und Pflegeplätzen.

Von Klaus Schieder

Vor zehn Jahren hat der Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen sein Seniorenpolitisches Gesamtkonzept herausgebracht, die eher düsteren Zukunftsaussichten in der Pflege und der Betreuung alter Menschen haben sich seither nur stellenweise aufgehellt. "Die Situation ist angespannt in allen Bereichen", konstatierte Maria Kistler vom Sozialamt das Landkreises. "Es besteht Bedarf an allem." Im Kreis-Sozialausschuss stellte sie am Montag - in Vertretung von Christiane Bäumler vom Fachbereich Senioren - die Neufassung des Gesamtkonzepts vor, das 2017 schon einmal fortgeschrieben worden war. Die Zahl der mehr als 60 Jahre alten Einwohner werde bis zum Jahr 2040 von derzeit 36 235 auf rund 46 000 steigen, prognostizierte Sozialamtsleiter Thomas Bigl. "Da rührt sich richtig was." Denn dies hat zur Folge, dass es auch erheblich mehr Pflegebedürftige geben wird. Ihre Zahl wird von derzeit 5156 auf 7277 zunehmen. Die Frage, wer sich dieser Senioren dann professionell annehmen soll, bleibt unbeantwortet. Schon jetzt können 85 von insgesamt 1060 stationären Pflegeplätzen im Landkreis wegen Personalmangels nicht besetzt werden.

Fehlendes Pflegepersonal

Die Bevölkerung im Landkreis wird in den nächsten zehn bis 20 Jahren wachsen. "Weil es Zuwanderung gibt", sagte Bigl. Zugleich wird sie immer betagter. Der Anteil der Menschen, die 60 und älter sind, dürfte 2040 bei insgesamt 34,4 Prozent liegen, also bei gut einem Drittel. "Die ersten Babyboomer sind 2019 in Rente gegangen, die letzten werden 2037 gehen", sagte Kistler. Immer mehr älteren Menschen stehen jedoch immer weniger Jüngere gegenüber, damit schrumpft auch das Reservoir für künftige Altenpflegerinnen und Altenpfleger. Schon jetzt gibt es einen Bedarf an 105 Pflegekräften, der sich bis 2040 auf 658 erhöhen wird. Landrat Josef Niedermaier (FW) verwies auf das Chaos an deutschen Flughäfen und die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer. "Das gleiche Problem haben wir in der Pflege schon seit 15 Jahren", sagte er.

Was Pflegekräfte aus dem Ausland betrifft, sei man aktiv, sagte Kistler. Darüber hinaus müsse man sich jedoch auch bemühen, Aussteiger aus der Altenpflege zurückzugewinnen, die Arbeitszeit für Teilzeitbeschäftigte zu erhöhen und mehr Auszubildende zu bekommen. Wichtig seien auch bezahlbare Wohnungen und Kinderbetreuung. Der Faktor Geld spielt laut Niedermaier nach den Lohnerhöhungen um rund 30 Prozent in den vergangenen Jahren nicht mehr die ganz große Rolle. Umso mehr aber die Wertschätzung für den Beruf. In der Gesellschaft selbst. Aber auch durch mehr Zeit für eine gute Pflege im Arbeitsalltag.

Pflegeplätze

Im Landkreis gibt es 14 Pflegeheime und neun ambulant betreute Wohngemeinschaften. Die Zahl der ambulanten Pflegedienste ist seit 2017 von 19 auf 25 gestiegen, nicht zuletzt durch die direkte Förderung des Landkreises. Immerhin je zwei bedienen die eher abgelegene Jachenau und das Klosterdorf Schlehdorf. Außerdem entstanden sieben solitäre Tagespflegen, vor fünf Jahren gab noch keine. Dennoch fehlen schon jetzt Pflegeplätze. In der Kurzzeitpflege gibt es ein aktuelles Defizit von 55 Plätzen (2040: 80), in der Tagespflege von 77 Plätzen (2040: 156) und in der vollstationären Pflege von 67 (2040: 555!). Im neuen Kreis-Pflegeheim in Lenggries sollen auf drei Geschossen je zwei Pflegegruppen mit insgesamt 90 Plätzen entstehen. Der Mangel in der Kurzzeit- und Tagespflege ist vor allem für Angehörige, die sich Tag und Nacht um Mann oder Frau, Vater oder Mutter kümmern, ein gravierendes Problem. Hinzu komme noch, dass es kein einziges Nachtpflegeangebot gebe, sagte Kistler.

Seniorenpolitisches Gesamtkonzept: Im neuen Pflegeheim in Lenggries sind je zwei Pflegegruppen auf drei Geschossen mit insgesamt 90 Plätzen vorgesehen.

Im neuen Pflegeheim in Lenggries sind je zwei Pflegegruppen auf drei Geschossen mit insgesamt 90 Plätzen vorgesehen.

(Foto: sweco/oh)

Pflegestützpunkt

Der Landkreis ist einer der wenigen, die noch keinen Pflegestützpunkt haben. Senioren oder ihre Angehörigen können in einer solchen Anlaufstelle wichtige Informationen, Antragsformulare und Hilfestellungen erhalten, auch Fachberater der Pflegekassen sind dort angesiedelt. Landrat Niedermaier hält dies nicht für geboten, jedenfalls nicht im Moment. "Wir haben jetzt schon mehr, als ein Stützpunkt bieten kann", sagte er und warnte davor, "dass wir dann unsere Strukturen aufheben müssten". Auch Bigl meinte, dass man eine "Riesen-Landkarte an Beratungen" habe, die man seelenruhig mit "Pflegestützpunkt" betiteln könnte. Allerdings schränkte Niedermaier ein, dass man das Für und Wider einer solchen Einrichtung ständig abwäge, die bei der Kreisverwaltung angesiedelt wäre. "Wir sind da nicht auf der Verweigerungsschiene." Kreisrätin Sabine Lorenz (CSU) wollte wissen, wann mit einer Entscheidung zu rechnen sei. Im Grunde bräuchte man ja eine für jeden der vier Sozialräume im Landkreis, meinte sie. Im Sozialamt werde man beobachten, aufbereiten und die Kreispolitik informieren, "wenn es entscheidende Erkenntnisse gibt", erwiderte Kistler.

Seniorenpolitisches Gesamtkonzept: Einen Pflegestützpunkt wie in anderen Landkreisen sieht Landrat Josef Niedermaier skeptisch. Eine grundsätzliche Absage an eine solch zentrale Beratungsstelle erteilte er jedoch nicht.

Einen Pflegestützpunkt wie in anderen Landkreisen sieht Landrat Josef Niedermaier skeptisch. Eine grundsätzliche Absage an eine solch zentrale Beratungsstelle erteilte er jedoch nicht.

(Foto: Manfred Neubauer)

Wohnen zu Hause

Nahezu alle Menschen wünschen sich im vorgerückten Alter, dass sie so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben können. Im Landkreis gibt es eine Menge Unterstützungsangebote im Alltag: 13 Nachbarschaftshilfen, sieben Betreuungsgruppen, der BRK-Fahrdienst, drei Anbieter von "Essen auf Rädern" und vier für einen Hausnotruf. Ein Problem gebe es in der Hauswirtschaft, sagte Kistler. "Da hapert es, weil die Nachfrage so groß ist." Und die Voraussetzungen streng. Für diese Tätigkeit gebe es hohe Hürden, "da braucht es eine leitende Fachkraft". Nicht einmal eine gelernte Hotelfachfrau dürfe in diesem Beruf ohne Weiteres tätig sein. Als Grund nannte Landrat Niedermaier, "dass die Bundesregierung damit versucht, den Schwarzarbeitsmarkt ein bisschen einzudämmen".

Alternative Wohnformen

Für Senioren, die daheim nicht mehr alleine leben können, aber auch nicht ins Heim wollen, gibt es im Landkreis sieben Einrichtungen für betreutes Wohnen mit insgesamt 300 Wohneinheiten, neun ambulant betreute Wohngemeinschaften mit maximal 90 Plätzen und drei Wohnprojekte wie etwa Mehrgenerationenhäuser. Wünschenswert wäre "die Schaffung weiterer alternativer Wohnformen und barrierefreien Wohnraums", sagte Kistler. Immerhin liege das Verhältnis von stationärer zu ambulanter Versorgung zurzeit bei 20 zu 80 Prozent - 2017 waren es noch 40 zu 60 Prozent.

Mobilität und Ortsentwicklung

Für alte Menschen, die kein Auto haben, ist es im ländlich geprägten Landkreis oftmals ein Problem, mit dem Nahverkehr von A nach B zu gelangen. Zwar gebe es nun die Schnellbus-Linien von Wolfratshausen nach Bad Tölz, "aber wir haben noch immer Bereiche, die schlecht angebunden sind", sagte Kistler. Zudem sollte die Mitfahrerbank, die in der Corona-Pandemie fast in Vergessenheit geriet, wieder belebt werden. Ein weiteres Thema: Barrierefreiheit. Die werde von den Kommunen in der Ortsplanung zwar mitgedacht, oftmals würden jedoch "Sinnesbehinderungen und psychische Behinderungen übersehen". Auch im Landratsamt selbst gebe es noch immer Bereiche, wo man in puncto Barrierefreiheit hinterherhinke, so Kistler. Was die mobile Gesundheitsversorgung anbelangt, müsse man sich das Thema Hausärzte jetzt "genauer anschauen und analysieren". Erfreulich: Von den 27 angefragten Apotheken habe jede einen Lieferservice.

Beratungsstellen

Im Landkreis gibt es Kistler zufolge vielfältige Beratungen zu den Themen "Pflege und Unterstützung". Und dies auch nicht bloß in den Fachstellen, sondern auch zu Hause bei den Betroffenen. Allerdings seien all die Hilfen für Seniorinnen und Senioren mittlerweile so bunt und verwirrend, dass die Beratungsstellen im Landkreise an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, sagt Kistler. Außerdem: "Wir haben ein kompliziertes Pflegeversicherungs- und Sozialsystem." Damit hätten die Ärztinnen und Ärzte jedoch kaum Berührungspunkte, obwohl sie von vielen Menschen als wichtige Ratgeber gesehen würden. Daran liegt es allerdings nicht, dass Einwohner ab 60 Jahre im Landkreis eher uninformiert sind, wenn es um Pflege geht. Dies sei eben ein Thema, mit dem sich die meisten ungern und erst dann befassten, wenn es unausweichlich sei, so Kistler.

Engagement und Teilhabe

Das Ehrenamtsbüro Senioren, die Seniorenbeauftragten in den einzelnen Gemeinden, der Seniorenbeirat, der Arbeitskreis für Menschen mit Behinderung, die Selbsthilfe-Kontaktstelle, 65 Selbsthilfegruppen im sozialen und gesundheitlichen Sektor: All diese Akteure sollen laut Kistler besser vernetzt werden. Zum Beispiel durch einen Info-Austausch via Newsletter oder das digitale Ehrenamt via Flexhero App. Der Kooperation wäre auch eine neue Internetplattform für freie Kapazitäten in ambulanter Pflege, Tagespflege und Alltagsbegleitung dienlich. Kostenpunkt: rund 6000 Euro. Darüber sollen die Kreisräte noch heuer befinden.

Hospiz- und Palliativversorgung

Die Situation in der Pflege Sterbenskranker habe sich durch die Spezialisierte ambulante Palliativersorgung (SAPV) sehr verbessert sagte Kistler. Die SAPV ist ein Team, in dem unterschiedliche Berufsgruppen wie Ärzte, Pflegekräfte und Kooperationspartner kooperieren.

Kistlers Fazit: "Wir werden noch viele Hausarbeiten machen müssen." Das 117 Seiten dicke Seniorenpolitische Gesamtkonzept bietet Sozialamtsleiter Bigl zufolge "Leitplanken für die Politik hier im Haus und in den Gemeinden". Der Kreis-Sozialausschuss stimmte der Fortschreibung 2022 einstimmig zu. Den endgültigen Beschluss fällt der Kreistag in seiner Sitzung am Montag, 25. Juli, 14 Uhr, in der Wolfratshauser Loisachhalle.

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