„Stopp!“, hallt es laut durch den Raum. Immer wieder. Eine der ersten Übungen beim Selbstverteidigungskurs im „Hinterhalt“ ist es, die Person gegenüber mit ausgestreckten Armen und lautem Rufen fernzuhalten. Die neun teilnehmenden Mädchen und Frauen arbeiten in Paaren zusammen, gehen aufeinander zu und schützen ihren persönlichen „Tanzbereich“. Zu dieser Trainingsstunde haben die Organisatoren des Pipapo-Festivals im Zeichen der UN-Kampagne „Orange Days“ eingeladen, die jährlich etwa fünf Wochen lang läuft und auf Gewalttaten gegen Frauen aufmerksam machen soll. „Jeden Tag wird eine umgebracht“, sagt Assunta Tammelleo über Gewalt an Frauen in Deutschland. Sie ist die Leiterin der Geltinger Bühne und macht ebenfalls bei dem Kurs mit.
Die ersten Versuche, den gegnerischen Partner auf eine Armlänge Abstand zu halten, sind noch zaghaft. Doch die spielerische Herangehensweise des Trainers Anton Gerl wirkt. Nach und nach werden die sechs Mädchen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren sowie die drei erwachsenen Frauen mutiger, auch die „Nein-“, „Halt-“, und „Stopp“-Rufe werden energischer. Er habe die Erfahrung gemacht, dass speziell Mädchen diese legale Verteidigung aberzogen werde, sagt Gerl. In gewissen Situationen sei es aber durchaus legitim, Gewalt anzuwenden.

Gerl ist Kriminalbeamter beim Landeskriminalamt. Er zeigt allen Teilnehmerinnen am Anfang des Kurses seinen Dienstausweis und erklärt, woran man einen echten von einer Fälschung unterscheiden kann. „Dieses Hologramm, wo nochmal mein schönstes Sonntagslächeln abgebildet ist, beachten: Nur das ist ein Polizeidienstausweis in Bayern.“ Der Polizist hat selbst zwei Töchter, eine ist 15 Jahre alt, die andere drei. Für diese beiden Mädchen wollte er ein Training zur Selbstverteidigung etablieren, erklärt er. Daraus habe sich eine „kleine große Leidenschaft, Frauen und Mädchen in Selbstverteidigung zu trainieren“, entwickelt.
Der Kurs beginnt mit einer spielerischen Koordinationsübung: Ein Tennisball wird pro Paar hin und her geworfen. Dabei gilt es, auf die Stellung der Beine und die auffangende Hand zu achten. Bald wird das Spiel herausfordernd, denn nun muss mit den Fingern der leeren Hand beim Annehmen des Balles zusätzlich eine Zahl gezeigt werden. Spätestens hier kommen alle Teilnehmerinnen ins Straucheln. Manche verlieren das Gleichgewicht, andere verwechseln plötzlich links und rechts.

Gerl ist neben seiner Tätigkeit als Ausbilder beim Landeskriminalamt auch Trainer der funktionellen Fitness beim TSV Wolfratshausen. Auch dort hat er bereits drei Selbstverteidigungskurse für Mädchen und Frauen gegeben mit jeweils etwa 40 Teilnehmerinnen. „Kam super an, hat super Spaß gemacht. Das waren drei Stunden volle Power“, erzählt der Polizist und lacht. Vermutlich im Frühjahr 2025 soll es in die nächste Runde gehen.
Im „Hinterhalt“ thematisiert er nicht nur körperliche Angriffssituationen. Unter anderem spricht er über unangenehme Gespräche, aus denen man sich als Frau zurückziehen oder in die man gar nicht erst geraten möchte. Dabei legt er besonders Wert auf einen Tipp: „Wenn du keinen Bock auf eine Unterhaltung hast, dann grins’ nicht!“ Denn jemand, der ein Lächeln vom Gegenüber sehe, nehme das als Einladung und Bestätigung auf, weiß der Kriminalbeamte.
„Wenn ihr euch in irgendeiner Situation unwohl fühlt, dann ruft die Cops an“
Als Nächstes zeigt Gerl, wie man die wichtigsten Körperteile in Deckung bringt. Man solle sich vorstellen, jeweils einen Tennisball zwischen Kopf und Schultern und auf jeder Seite zwischen den kurzen Rippen und den Ellbogen einzuklemmen, beschreibt der Trainer. Dabei sind die geballten Fäuste knapp unterhalb der Augen platziert, um das Sichtfeld nicht zu beschränken. Nun stolpern alle mit hochgezogenen Schultern und angewinkelten Armen durch den Raum. „Was einfach ist, funktioniert auch im Hochstress“, weiß Gerl aus Erfahrung. Daher übt er mit den Teilnehmerinnen an diesem Abend nur simple Faust-, Ellbogen- und Kniehiebe. „Stumpf ist Trumpf“, beschreibt er diesen Ansatz.
Bei der Schlussübung, einer Kombination aus allen Inhalten des Kurses, sieht man rote Gesichter und durchatmende Mädchen und Frauen. Auch die Partnerinnen, die den Angreifer spielen, kommen an ihre Grenzen. Sie sollen ausweichen, decken, angreifen, inaktiv sein und wieder nahe kommen, um eine möglichst reale Situation nachzustellen. Währenddessen gehen die anderen in Deckung oder wehren sich mit Fausthieben, Ellbogenschlägen und Knieeinsätzen.
Noch einen Tipp hat Gerl parat: „Wenn ihr euch in irgendeiner Situation unwohl fühlt, etwa auf dem Nachhauseweg um drei Uhr in der Früh, dann ruft die Cops an.“ Dafür seien sie da und würden dann jemanden vorbeischicken oder zumindest am Telefon bleiben. Nach zwei Stunden sind alle Teilnehmerinnen ein wenig geschafft. Schnell noch einen Schluck Wasser trinken und dann ab nach Hause, das Gesagte und Gelernte verarbeiten. Was nimmt man aus diesem Kurs mit? „Alles!“, sagt eines der Mädchen. Und Assunta Tammelleo: „Ey, grins’ nicht!“