Süddeutsche Zeitung

Selbstversuch zwischen Wolfratshausen und Geretsried:Trampen mit Sitzfleisch

Die sogenannten Mitfahrbankerl sollen es Menschen ohne Auto leichter machen, im Landkreis von A nach B zu kommen. Noch aber hapert es an der Umsetzung, wie ein Selbstversuch zeigt

Von Veronika Ellecostaund und Yara van Kempen, Bad Tölz-Wolfratshausen

Die Ära des Trampens ist für die meisten Menschen vorbei. Daumen am Straßenrand, die in Fahrtrichtung zeigen, und Pappkartons mit abgenutzten Rändern inklusive etwas verwilderter Passagiere in spe kennt man nur noch aus Roadmovies und den eigenen Jugendtagen. Die Jugend von heute steigt nicht mehr zu Fremden ins Auto - ein Lehrsatz, der Kindern schon früh beigebracht wird. Das 21. Jahrhundert steht nämlich im Zeichen der Sicherheit. Da werden als Maximum an Risiko über "BlaBlaCar.de" Fahrgemeinschaften gesucht, Fahrer mit zertifizierter Identität und Fünf-Sterne-Bewertungen ausgewählt, um sicher von München nach Budapest zu kommen. Aber das hier ist nicht München, sondern ein oberbayerischer Landkreis, und die Ziele sind auch nicht international, sondern der nächste Ort.

Im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen haben die Kommunen nun auf Initiative des Landratsamts 33 "Mitfahrbankerl" errichtet, weitere stehen in Planung. Ortsteile, die nur schlecht an den öffentlichen Verkehr angebunden sind, sollen durch die Mitfahrgelegenheiten besser vernetzt werden, so die Idee. Außerdem sollen die Bänke den Verkehr verringern. Denn: Wer in vom öffentlichen Verkehr meist isolierten Ortsteilen wohnt, ist auch für kleinste Erledigungen oft auf das eigene Auto angewiesen. Ein-Personen-Fahrten sollen reduziert werden, um den Verkehr im ohnehin sehr touristischen Oberland zu entlasten, indem die Bewohner sich zu spontanen Fahrgemeinschaften zusammenschließen. In Deutschland gibt es die Mitfahrbankerl vielerorts bereits seit 2014, auch die Nachbarlandkreise Garmisch-Partenkirchen und Starnberg ziehen langsam nach. Im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen reagieren einige Gemeinden noch verhalten, warten ab oder haben ihre Beteiligung wieder zurückgezogen. In Bad Heilbrunn, Münsing und Wolfratshausen aber stehen mittlerweile Bänkchen, auf denen man bequem auf eine Mitfahrgelegenheit Richtung umliegende Ortschaften warten kann.

Ob die Bänke dem Trampen ein Comeback verschaffen, soll ein Selbstversuch klären. Um 15 Uhr beginnt die Fahrt in Wolfratshausen. Genauer: das Warten auf die Fahrt. Das Mitfahrbankerl beim Pumpenhäuschen Ecke Bahnhofstraße ist mit einem roten M markiert, neben der hellen Holzbank steht eine Eisenstange, an die mehre umklappbare Tafeln mit Zielorten montiert sind. Um das gewünschte Ziel anzuzeigen, blättert man sich durch die Tafeln. Es soll nach Geretsried gehen. Nun heißt es nur noch warten.

Magst mitradeln?

Erst einmal passiert gar nichts. Nach gefühlten Stunden, in Wahrheit fünf Minuten, passiert ein Fahrradfahrer das Mitfahrerbankerl. Im Fahren mustert er das Bankerl, das Schild. Lacht. "Magst mitfahren?", ruft er vom Rad, ohne stehen zu bleiben. Ob das Bankerl auch für andere Fortbewegungsmittel konzipiert ist? Es wird wohl etwas eng zu zweit auf einem Fahrradsattel. In den nächsten Minuten wiederholt sich die Sequenz noch ein weiteres Mal, diesmal mit einer Radlerin.

Kurz danach bleibt eine ältere Dame auf dem Weg zum täglichen Einkauf stehen. "Das Bankerl ist ja ganz nett, aber wieder steht kein Müllkübel da." Sie schüttelt den Kopf. Andere Fußgänger spazieren an der Bank vorbei und wünschen wahlweise viel Glück für die bevorstehende Fahrt oder bemitleiden die Wartesituation. Von den gesprächsbereiten Passanten hat noch keiner jemals das Mitfahrbankerl genutzt. Die Bürger stehen der Idee noch etwas misstrauisch gegenüber.

Mit dem Warten kommt die Ungeduld. Das Bankerl befindet sich hinter einer Abzweigung, wo lieber beschleunigt wird als abgebremst, weshalb die Autofahrer vermutlich unvorbereitet auf den Wartenden treffen. Und zwischen Wahrnehmen und Reagieren ist das Auto schon vorbeigezogen. Irgendwann fixiert man mit flehenden Blicken die Fahrer der vorbeirasenden Autos. Die Besitzer der Wagen aus München, Tölz und Starnberg wenden ihrerseits die Blicke nur ungern von der Straße ab, einige lächeln mit verneinender Gestik, kindliche Mitfahrer strecken neugierig den Kopf aus dem Fenster. Den Großteil der Zeit versitzt man wie vergessen am Straßenrand.

Die Wende kommt um 15.29 Uhr mit einem Opel, der neben der Bank anhält. Die Fahrerin lässt das Fenster hinunter und lädt tatsächlich zum Mitfahren ein. Bis zum Kaufland in Geretsried führe ihr Weg, schlägt sie vor. Die Kinder auf der Rückbank scheinen überrascht über die neue Mitfahrerin. "Ich mach das heute zum ersten Mal. Anhalter nehme ich sonst nicht mit", erklärt die Mutter entschieden. Auf Mitfahrbankerln habe sie bisher auch noch niemanden sitzen sehen. Auf der Fahrt nach Geretsried erklärt sie im Fremdenführerton die Gegend und weist im Vorbeifahren auf die nahen Ortschaften hin, davon abgesehen bleibt sie ruhig. Was sie über die neuen Bankerl denke? "Wir haben Vorsicht gelernt und das ist auch gut so", sagt sie. Den Umweltaspekt kann sie dennoch gutheißen. Leider kann sie auch nicht ausmachen, wo sich in Geretsried Mitfahrbänke für die Weiter- oder Rückfahrt befinden. Aber man bleibt schließlich optimistisch, denn wo ein Weg hinführt, von dort soll bekanntlich auch einer zurückführen.

Wider Erwarten ist der Weg in die Nachbarstadt jedoch eine Einbahnstraße. Gestrandet in Geretsried Nord. Weit und breit kein Mitfahrbankerl. Der Besitzer einer naheliegenden Fahrradwerkstatt hört den Begriff zum ersten Mal. Hilfsbereit nimmt er sich trotzdem die Zeit, Freund und Helfer Google zu befragen. Aber das Internet spuckt nur verwirrte Nachrichten aus. Etwas ratlos wendet er sich schließlich vom Bildschirm ab. Ein E-Bike könne er für die Rückfahrt verkaufen, sagt er augenzwinkernd. Als kostengünstiger erweist sich ein Busfahrplan, den er auf dem Verkaufstisch liegen hat.

Ein Anruf bei ortskundigeren Kollegen genügt, um in Erfahrung zu bringen, dass die Mitfahrbankerl in Geretsried zwar geplant, aber noch gar nicht aufgestellt worden sind. Eine übersichtliche Internetseite, um sich über Standorte zu informieren, gibt es derzeit nicht. Aus Mangel an Alternativen erfolgt die Rückfahrt also durch privaten Abholdienst aus der Redaktion.

Als die Kollegin rechts ran fährt und die Fahrt zurück nach Wolfratshausen beginnt, ist man sich einig: Mit derzeitigem Stand der Dinge ist das Mitfahrbankerl eine nette Idee, es hapert jedoch an der Umsetzung. Dass der Landkreis daran arbeitet und bald mehr Informationen bereitstellen will, verspricht Ralph Seifert, Behindertenbeauftragter des Landkreises und Initiator des Projekts. Die Homepage des Landratsamts werde gerade neu gestaltet, sagt Seifert. Ein eigenes Geoportal mit den genauen Standorten der Bänke soll es dort künftig geben, zusätzlich will der Landkreis Informationsblätter an die Bürger verteilen. Wenn die Popularität des Projekts steigt, wird hoffentlich auch das Warten auf dem Mitfahrerbankerl deutlich kürzer.

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Quelle:
SZ vom 11.05.2019
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