Süddeutsche Zeitung

Säuglinge:Wenn Eltern ihre Kinder in der Wut zu Tode schütteln

Auch kurze Schüttler können bei Neugeborenen gravierende Folgen haben. Dessen seien sich viele nicht bewusst, sagt eine Familientherapeutin.

Von Klaus Schieder, Bad Tölz

Martina Grasser hält das Baby auf Armlänge vor sich hin und schüttelt es. Nur einmal, aber heftig. Der kleine Kopf wackelt vor und zurück. Eine verstörende Demonstration, denn die Säuglingspuppe sieht täuschend echt aus. Der kurze Moment kann schon ausreichen, damit das Neugeborene ein Schütteltrauma bekommt und stirbt. In München soll im Oktober 2017 ein sechs Wochen altes Baby auf diese Weise ums Leben gekommen sein, erst im Dezember wurde eine Tagesmutter in München zu einer Haftstrafe verurteilt, weil sie einen Säugling so heftig geschüttelt haben soll, dass er irreversible Hirnschäden davontrug.

Die Dunkelziffer dürfte allerdings weitaus höher sein, mutmaßt Grasser, die bei der Beratungsstelle "Koki - Netzwerk frühe Kindheit" im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen arbeitet. Schließlich geben die meisten Mütter und Väter hernach im Krankenhaus oder beim Arzt nicht zu, dass sie ihr Baby mal kurz geschüttelt haben. Zusammen mit der Ökumenischen Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche im Franziskuszentrum bietet "Koki" eine umfassende Hilfe für Eltern an, die mit ihrem schreienden Kind überfordert sind. Denn auch im Landkreis, in dem Grasser arbeitet, passieren immer wieder Zwischenfälle: In den vergangenen zehn Jahren ist ein Kind wegen Schüttelns gestorben, außerdem erlitten drei Babys einen bleibenden körperlichen Schaden.

Das Schütteln, auch wenn es nur zwei, drei Sekunden dauert, kann für ein Neugeborenes lebensgefährlich sein. Das Gehirn gerät dabei in Schwingung, Blutgefäße und Nervenbahnen reißen. Außerdem ist die Nackenmuskulatur für seinen schweren Kopf noch nicht genügend ausgebildet.100 bis 200 Babys werden jedes Jahr in Deutschland mit einem Schütteltrauma in die Klinik gebracht, jedes dritte von ihnen stirbt. Die anderen bekommen oftmals chronische Schäden.

Die träten nicht immer gleich, sondern meist erst später auf, sagt Psychologin und Familientherapeutin Eva Burchard von der Ökumenischen Beratungsstelle der Caritas und der Diakonie Oberland: "Das zeigt sich durch Störungen beim Sehen, beim Sprechen, beim Lernen, durch Krampfanfälle." Eine eindeutige Verbindung zum Schütteln lässt sich dann nur schwer herstellen, zumal wenn die Eltern darüber schweigen. "Viele wissen nicht, wie gefährlich das ist", sagt Burchard.

Das bedeutet keineswegs, dass die Mütter und Väter, denen die Nerven durchgehen und dann ihr Kind anpacken, gefühllos wären. Eva Dietl spricht von einer Mischung aus Überforderung, Wut und Enttäuschung. Manchmal entstehe in der Familie eine erhöhte Belastung, weil das Paar in seiner Beziehung selbst einige Probleme habe, oder weil der Nachbar ständig frage, ob man denn das Baby nicht im Griff habe, erzählt die Sozialpädagogin und Trauma-Fachberaterin von der Ökumenischen Beratungsstelle. Manchmal machten sich junge Paare auch falsche Vorstellungen und malten sich ihr Zusammenleben nach der Geburt in rosaroten Farben aus. Wenn dann alles anders kommt, mache sich oft Verzweiflung breit, so Dietl. "Es gibt ein Versagensgefühl der Eltern, sie fragen sich, was mache ich bloß falsch."

"Es ist normal, dass ein Baby schreit"

In den meisten Fällen lautet die Antwort: gar nichts. "Es ist normal, dass ein Baby schreit, auch wenn es gut versorgt ist", sagt Burchard. Der Grund dafür seien selten körperliche Beschwerden, sondern ein natürlicher Anpassungs- und Reifungsprozess. In den ersten sechs Monaten müsse ein Säugling erst noch seine Schlaf- und Wachzustände regulieren, sein Hunger- und Sättigungsgefühl, so Burchard. Außerdem habe er nur das Schreien, um zu zeigen, dass er müde ist und Ruhe braucht, Hunger hat, schwitzt oder friert, schmusen möchte, eine neue Windel benötigt. Für die Eltern sei dieses Plärren aber häufig unvorhersehbar und nicht nachvollziehbar. Und wenn dann nichts fruchte, werden sie immer verzweifelter, erklärt Burchard. Dann könne es zu einer kurzen Impulshandlung wie dem Schütteln kommen.

Die Ökumenische Beratungsstelle und das Koki-Netzwerk versprechen eine schnelle, kostenlose und unbürokratische Hilfe. "Es ist uns wichtig, dass wir oft sehr schnell weiterhelfen können", sagt Burchard. Es würden eigens Baby-Termine freigehalten, ansonsten bemühe man sich, den Eltern binnen einer Woche einen Termin zu geben. Eine zügige Unterstützung ist auch Beraterin Martina Grasser wichtig. Und noch etwas: Die Beratung finde auf Wunsch auch anonym statt. "Es gibt Hilfe weitab vom Jugendamt." Möglich ist dies vor allem durch die enge Kooperation von Ökumenischer Beratungsstelle und dem "Koki - Netzwerk frühe Kindheit", wodurch zum Beispiel auch Kinderkrankenschwestern oder Pädagogen rasch hinzugezogen werden können. "Wichtig ist, dass man genau hinschaut, was braucht das Kind, was braucht die Familie, welche Rahmenbedingungen sind da", so Eva Dietl.

Für Mütter und Väter am Rande der Verzweiflung gibt es auch ein paar einfache Tricks, um den emotionalen Pegel herunterzufahren. "Man kann das Baby an einen sicheren Ort legen und mal kurz alleine lassen", sagt Burchard. Dann gehe man raus und atme mal durch. Dietl erzählt von einer Mutter, die ihr schreiendes Kind zwar im Arm hielt, sich jedoch Kopfhörer aufsetzte. All dies ist immer noch besser als Schütteln. Und sei es bloß für zwei, drei Sekunden.

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SZ vom 21.01.2019/imei
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